Dienstag, 31. Oktober 2023

Dunkel, und voller Dornen

von Tine Kulgart

 

Triggerwarnung: Gewalt, Blut, angedeutete nicht-einvernehmliche sexuelle Handlungen, Mord


„Ein Gancanagh ist schwer zu finden.“


Dies waren die ersten Worte, die der König des Unseelie-Hofs an ihn gerichtet hatte. Ihn, eine Fee ohne Hof, ohne Zugehörigkeit. Es gab nicht mehr viele von ihnen. Die meisten hatte man früher oder später überzeugt, sich einem Hof zuzuwenden – Schatten oder Licht, Chaos oder Ordnung, Seelie oder Unseelie. Doch für ihn hatte es immer mehr als nur schwarz und weiß gegeben. Von Geburt an bewegte sich Ciaran in Grauzonen.

Gancanagh. Liebesflüsterer – eine Unterart der Feen, deren Berührung süchtig machte und Menschen dazu trieb, Unsagbares zu tun, nur um diese Berührung noch einmal zu erfahren. Die meisten, die mit dieser Fähigkeit geboren wurden, liebten jede Sekunde davon. Sie sehnten sich nach der verzweifelten Liebe – oder nach dem, was Menschen im Wahn noch als Liebe ansahen. Es war rein körperlich, brennende Lust, von der sich der Unseelie-König und sein gesamter Hof nährte.

Ciarans Mutter hatte ihn bewusst von den Höfen ferngehalten, sobald sie gesehen hatte, dass er mit dieser Gabe – Fluch und Segen zugleich – geboren worden war. Zusammen mit ihr hatte er ein fast normales Leben geführt, auch wenn er sich an Regeln halten musste. Sieh ihnen nicht in die Augen. Beantworte keine Fragen, die du nicht verneinen kannst. Gehe niemals mit ihnen, wenn sie dich einladen.

Feen konnten schließlich nicht lügen.

Fast einundzwanzig Jahre lang hatte er es geschafft, den Mitgliedern des Unseelie-Hofes aus dem Weg zu gehen. Einundzwanzig Jahre, ruiniert durch einen einzigen unachtsamen Augenblick.

Der König lachte, und Schatten erhoben sich hinter ihm. „Gancanaghs gehören zum Unseelie-Hof. Du weißt es, deine Mutter weiß es. Sie hätte dich besser verstecken müssen, wenn sie dich wirklich schützen wollte.“
„Lass meine Mutter aus dem Spiel.“
„Oh sieh an, es spricht. Komm mit mir, Ciaran. Es wird nicht zu deinem Schaden sein.“

Die Erwähnung seines Namens ließ ihn zusammenzucken. Namen hatten Macht, auch wenn er nicht wusste, wieso Feen-Adel seinen Namen kannte. Wieder schmunzelte der König und griff nach seinem Handgelenk, während scharfkantige Fingernägel sich in Ciarans Haut bohrten. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten – entweder du kommst freiwillig oder ich lasse dich holen.“


*


Die Feenwelt existierte, nur von einem dünnen Schleier getrennt, neben der Welt der Menschen. Nur wenige konnten durch den Schleier hindurchsehen, denn das Feenvolk war stets darauf bedacht, im Geheimen zu wandeln. An manchen Tagen im Jahr wurde der Schleier dünner: an Samhain, zum Beispiel, und in den eisigen Rauhnächten zwischen den Jahren.

Mit der Zeit hatten die Menschen gelernt, eine Welt zu erschaffen, die Feen – egal ob versteckt oder nicht – nicht mehr mit offenen Armen begrüßte. Eine Welt voller Stahl, in der grüne Wälder und Parks zunehmend verschwanden. Hier, zwischen hohen Häusern aus Beton und Glas, war Ciaran aufgewachsen – fernab von allem, was sein Volk ausmachte.

Doch als er auf dem Schoß des Königs saß und das Chaos vor ihm beobachtete, dachte er im Stillen, dass er nichts verpasst hatte. Der Hof der Unseelie war ein Ort voller Dunkelheit. Verborgen in einem einer Burgruine tief im Wald, die nur für das menschliche Auge verfallen schien, traf sich all das Volk, das sich von Schmerz und Elend nährte. Wie Geier saßen und standen Mitglieder des Hofes im Thronsaal, der von einem Podest aus Turmalin dominiert wurde. Der Thron war aus dem gleichen Material, und darauf saß der König – umgeben von Schatten, seinen neuesten Fang auf dem Schoß, und einen Arm besitzergreifend um den Feenjungen gelegt.

Der Boden war blutbefleckt, mit zahllosen Fußspuren. Eine Sommerelfe kämpfte gegen zwei Feen, die sie um mehr als einen Kopf überragten und ihr einen Mantel aus Rosendornen umlegten. An den Wänden hingen Tierschädel wie Jagdtrophäen, und von den Geweihen tropften Blut und Eingeweide.

Ein Duft von Tod und Schmerz lag in der Luft wie Parfüm, während die langsame Musik eines Quintetts die Laute von Folter und Pein nicht überdecken konnte. Doch der Hof gedieh, als ob das Blut sein Wachstum wässerte. Feen tanzten in Pfützen von Blut und schmiegten sich an jene, die an Pfeiler und Wände gefesselt um Gnade flehten, als seien es Liebhaber.

Ciaran blickte auf all den Schmerz um ihn herum und wünschte sich weit weg – umso mehr, als er die Blicke von manchem Halbling auf sich spürte. Seit jeher hatte der Unseelie-Hof auch jene aufgenommen, deren Blutlinie von anderen Einflüssen verwässert worden war.

„Sie sehnen sich nach deiner Aufmerksamkeit, deiner Berührung. Wirst du ihnen die Ehre erweisen?“, wisperte der König in sein Ohr und strich ihm eine Strähne des langem, ebenholzfarbenen Haares hinter das spitze Ohr.
„Nein.“
„Nein?“

„Kalt wie ein Fisch, euer neuester Fang“, lachte ein Feenritter in pechschwarzer Uniform, der neben dem Thron postiert war.

Ich habe Fische mit heißerem Blut gesehen“, entgegnete der König, bevor sich seine krallenbewehrte Hand um Ciarans Kehle schloss. „Hör gut zu – du bist an meinem Hof und beugst dich meinem Willen. Niemand wird dir hier zur Seite stehen.“

Und dennoch blieb Ciaran regungslos, sein Körper steif, wie gefangen in rigor mortis.


*

Du wirst lernen, es zu genießen.“

Es klangt mehr wie eine Drohung als ein Versprechen, und der kalte Atem des Unseelie-Königs strich über Ciarans Haut, während sich seine Hände in das Laken unter ihm gruben. Sein Blick war auf die Decke gerichtet, Stuckverzierungen mit Puten, die einander jagden. Er wünschte, er hätte Flügel, um diesen Ort zu verlassen.

„Kalt wie ein Fisch, tatsächlich.“

Endlich rollte sich der König zur Seite, und die Matratze sank unter seinem Gewicht ein. „Wir finden schon etwas, das dich berührt.“

Ciaran antwortete nicht. Sein Schweigen war schon immer seine größte Stärke gewesen.


*

Zeit verging am Unseelie-Hof langsamer und schneller zugleich, bis sich jeder Tag zu ähneln begann. Ciaran erwachte mit dem König und speiste mit ihm, bevor er sich wie eine Schaufensterpuppe auf dem Schoß des Herrschers platzierte und jeden Tag aufs Neue die Qualen und Foltern mit unbewegter Miene beobachtete. Er tolerierte die Berührungen, ohne sie jemals zu erwidern – seine Lippen blieben geschlossen, egal wie tief sich Fangzähne in das zarte Fleisch bohrten. Du wirst lernen, es zu genießen.

Er lernte, seinen Widerwillen hinter einer Maske von Gleichgültigkeit zu verstecken.


„Lass uns ein Spiel spielen.“

Ein Seil aus Seide legte sich um seinen Hals, als sie alleine waren – die Gemächer des Königs ein Hort voller Alpträume, mit schweren Vorhängen, die jegliches Tageslicht ausschlossen. „Das Seil gegen deine Hände – wer wird länger aushalten?“

Und dieses eine Mal lächelte Ciaran, als sich das Seil langsam schloss und gegen seine Kehle drückte, seine eigenen blassen Hände um den Hals des Königs gelegt. Beinahe liebevoll, beinahe zärtlich. Er hatte lange genug still gehalten, hatte Wochen des Leids ertragen.

„Ein Gancanagh ist schwer zu finden – willst du das wirklich riskieren?“, flüsterte er, als sein Sichtfeld verschwamm.

Seine Finger drückten zu, während er an all die Dinge dachte, die er gesehen hatte – die blutenden Körper, die sich vor Schmerzen wanden, die tränenbenetzten Gesichter, die um Gnade bettelten, und sein eigenes Spiegelbild, das nach jeder Nacht ein wenig mehr schwand.

„L-lass... lass los.“
„Nein.“

Der Druck um seinen eigenen Hals schwand, während die Atemgeräusche des Königs mehr und mehr nach den Klagelauten all derer, die ihr Leben am Hof gelassen hatten, klang. Ein Zucken durchlief seinen Körper, bevor er endlich nach vorne fiel.

Im letzten Moment ließ Ciaran los und erhob sich, während die Krone aus schwarzem Holz und Dornen auf das dunkle Laken rollte. Instinktiv griff er danach und wog sie in seinen Händen – Hände, die nun ein Leben genommen hatten.


Die Tür zum Schlafzimmer wurde aufgestoßen, und dort stand der Ritter in schwarzer Rüstung. Es bedarf nur einen einzigen Blick, um die Lage zu verstehen. Er starrte vom toten König zu Ciaran und zur Krone in seiner Hand, bevor er auf die Knie sank.

„Mein König – der Hof wird ein Fest für euch ausrichten.“


Über die Autorin

Christine Kulgart ist 1993 geboren und lebt und schreibt in Ulm (Baden-Württemberg). Sie hat Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg studiert und ist seit 2013 in der Ulmer Medienlandschaft in Tageszeitungen und Stadtmagazinen unterwegs. Hauptberuflich arbeitet sie als Redakteurin im Marketing und schreibt freiberuflich für die Fachmagazine Naturstein und Bestattungskultur, ebenso wie für das Studierendenmagazin Studi@SpaZz. Auf Instagram findet man Christine unter @tinekulgartschreibt und @somberlainy.

Bisherige Veröffentlichungen:

Rauschberg (2023)

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