Dienstag, 31. Oktober 2023

Stumm

Triggerwarnung: 

Diese Geschichte enthält Beschreibungen von Vergewaltigungen, Mord und Folter. 


„Egal was passiert, öffne nicht deine Augen.“ Es sind so einfache Worte, die eine einfache Handlung erfordern. Aber ich kann nicht. Ich muss sie einfach öffnen. Und sehe das Entsetzen. Das schlimmste, was ich je gesehen habe und wohl auch sehen werde. Weit geöffnete Augen, die mich anstarren. Es sind die für mich wohl vertrautesten Augen auf der Welt - die Augen meiner Mutter.

„Mami, stirb nicht, ich liebe und brauche dich.“ spreche ich in Gedanken mit meiner Mutter. Aber keine Reaktion. Ich sehe nur leere Augen, die voller Liebe, Hingabe und Leben gefühlt waren.

„Ich sagte doch, dass du nicht hinsehen solltest.“ spricht der Mann hinter mir. Ich habe keine Ahnung, wer er ist, aber ich habe das Gefühl, dass er weiß wer wir sind und genau weiß, was er tut. „Das hast du sehr gut gemacht Bonnie, du hast hingesehen, obwohl ich gesagt habe, guck weg. Du bist sehr mutig, aber auch dumm. Deine Dummheit muss bestraft werden und ich freue mich, dich bestrafen zu können.“ spricht er so gefühllos, dass es mir einen Schauer über den Rücken läuft.

Der Mann sieht groß für mich aus, aber ich weiß nicht wie sein Gesicht aussieht. Die Sturmmaske verdeckt sein Gesicht, was sie aber nicht verdecken kann sind seine tief dunklen, braunen, toten Augen.

Ich schließe die Augen in der Hoffnung, dass es nur ein Traum ist.


Es ist ein heißer Nachmittag in San Francisco. Unser Wohnkomplex steht auf einem Hügel, die Straße ist so laut, wie man es erwarten kann. Wir wohnen recht weit oben und wenn ich nach Hause durch die Tür komme, sehe ich direkt die Küche. Es ist für mich der schönste Ort in unserem Zuhause. Die Sonne scheint durch das Küchenfenster auf dem Esstisch. Meine Hefter und Bücher liegen kreuz und quer und ich gebe mir allergrößte Mühe, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Es ist allerdings gar nicht so einfach. Ich spüre einen Widerstand in mir, einfach in mein Zimmer zu gehen und einfach drauf los zu malen. Aber nein - ich versuche brav zu sein, für meine Mum. Sie und ich, wir sind ein Team. Sie ist der Inbegriff der Schönheit, in ihren blauen Augen sieht man die Wellen des Ozeans, die jeden mitreißen können. Es sind positive Wellen der Liebe, Toleranz und Stärke. Die alte Mrs. Miller, die gegenüber im Apartment lebt, pflegt immer zu sagen „Kindchen, du wirst genauso werden wie deine Mutter. Du siehst aus wie sie, mit deinen blonden lockigen Haaren, um die ich dich so beneide. Du wirst ihre Freundlichkeit und Offenheit gegenüber anderen übernehmen und wirst immer auf sie hören, verstehst du?“ Ach, die alte Dame hat schon etwas verrücktes an sich. Aber ich kenne sie, seit wir in diesem Komplex leben. Sie ist immer nett und hilfsbereit. Außerdem kennen wir kaum andere Nachbarn von uns.


Wir leben oben in der zehnten Etage und die Mieter leben alle eher für sich. Jeder macht sein Ding und es interessiert sich niemand für den anderen. Mum ist in ihrem Schlafzimmer und arbeitet am Computer. Sie ist einmal böse auf mich geworden, weil ich einfach so in das Zimmer reingeplatzt bin, ohne vorher anzuklopfen. Ich sah nur, dass der Computer an war und sie schnell den Bildschirm ausgemacht hat, als sie mich bemerkt hat. Das war für mich eine Lehre. Deswegen versuche ich mich weiter auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren, gebe aber schließlich auf. Die Matheaufgaben werde ich im Schulbus morgen früh fertig stellen und Mum wird es nie erfahren. Ich räume unseren Esstisch auf und bereite mich mental schon auf das Abendessen vor.

*Klopf, Klopf* Wir erwarten keinen Besuch, aber es kann möglich sein, dass Mrs. Miller an der Tür steht und uns zum abgestandenen Kaffee und Keksen einladen will, wobei die Kekse schon längst abgelaufen sind. Noch bevor ich die Tür öffnen kann, geht meine Mum fröhlich und heiter mir zuvor. Sie lächelt mich an und es ist das liebevolle Lächeln, was aussagt: "Ich liebe dich, mein Kind. Ich bin stolz auf dich und werde dich für immer beschützen.“ Mum hat die Angewohnheit, zuerst durch den Türspion zu gucken. Sehr klug und umsichtig; eine Löwin, die ihr Baby schützen will. Sie schaut durch und öffnet die Tür. An der Türschwelle stehen zwei Männer in grauer Uniform. Sie sehen für mich aus wie Handwerker.

„Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie noch so spät aufsuchen, Miss King, aber wir haben von unserem Chef den Auftrag bekommen, in jedem Apartment die Feueralarmanlage zu überprüfen. Sicherlich haben Sie unseren Zettel im Briefkasten vor einigen Tagen gesehen.“ spricht der größere Mann in einer sehr freundlichen und warmen Stimme.

„Ohja, sicher, es tut mir Leid, ich habe vergessen, dass Sie heute kommen wollten. Aber natürlich, kommen Sie..“ noch bevor meine Mum ihren Satz beenden kann, holt der kleinere Mann eine Pistole aus seiner rechten Hosentasche, stürmt an ihr vorbei und kommt innerhalb von Millisekunden auf mich zu. Sein linker Arm umfasst meinen Hals, mit der rechten Hand setzt er die Waffe an meine Schläfe. Ich bekomme kein Ton heraus, ich bin starr vor Schreck. Noch bevor meine Mutter realisieren kann, was passiert ist, schubst der größere Mann sie in die Wohnung und schließt die Tür.

„Annie, ich empfehle dir, still zu bleiben. Du siehst, mein Partner hält deiner süßen Tochter eine Waffe an den Kopf. Versuchst du zu rebellieren, stirbt Bonnie.“ Alles in mir wird taub und ich sehe, dass meine Mum sich fügt. Sie verhält sich defensiv und gibt den Räubern das, was sie wollen. Aber in ihren Augen sehe ich den Ozean. Nicht der tiefblaue, der Heiterkeit. Es ist der dunkle Ozean, auf dem ein Gewittersturm sein Unwesen treibt und nur darauf wartet, etwas zu töten. Meine Mutter ist im Beschützermodus. Mein Gott, sie ist so unglaublich.

Ich erwache aus meinem Traum auf und spüre, wie sich meine Blase füllt. Ich spüre, wie ich im Schlafzimmer meiner Mum auf dem lilafarbenen Teppich liege. Allerdings weiß ich auch, dass dieser nicht mehr lila ist, sondern die Farbe von Blut angenommen hat. Mein Gott, wenn ich die Augen öffne, würde ich sehen wie... Nein, ich will sie einfach nicht öffnen. Es ist so still, ich höre meine eigenen Atemzüge. Es holt mich in die Realität zurück und ich spüre, wie die Welt sich weiter dreht, meine eigene aber komplett stehen geblieben ist.


 Niemand scheint hier zu sein, nur Mum und ich. Keine Ahnung, wie lange ich geträumt habe, aber ich spüre keine weitere Person hier. Die Männer sind weg. Ich erinnere mich an die Worte des Mannes und ich habe Angst vor seiner Bestrafung. Dennoch beschließe ich meine Augen wieder zu öffnen und - Oh mein Gott. Es war ein Fehler. Er hat mich bestraft. Ja und wie er mich bestraft hat. Ich sehe immer noch meine Mum - zumindest das, was von ihr übrig geblieben ist. Ihre Haut sieht so krank aus und ihre Augen. Da ist kein blauer Ozean, da ist kein dunkler Ozean. Das ist - ich weiß nicht. Was mal Augen waren, haben sich in milchige Flüssigkeiten verwandelt, die einer hellen Schlammpfütze ähneln. Ich kann meine Augen nicht abwenden, ich kann mich nicht drehen oder bewegen. So sehr ich es auch will, es geht nicht. Der Mann hat mich bestraft - indem er mich an meine tote Mutter gefesselt hat. Die Kette ist um meinen Hals geschlungen und reicht hinüber zum Hals meiner Mutter. Gesicht an Gesicht, vielleicht 5cm Abstand zwischen uns. Wieso? Wieso meine Mum? Wieso ich? Wir sind gute Menschen und haben nie irgendjemandem etwas Böses angetan. Ich krame in meinen Erinnerungen und versuche zu verstehen, was passiert ist:

Mum ist eine Löwin, wachsam und instinktiv beschützt sie mich. Sie hört auf das, was die Männer zu ihr sagen. Wir alle sind ins Schlafzimmer gegangen, die blauen Vorhänge sind zugezogen, sodass kein natürliches Licht in den Raum fällt. „Annie, du fesselst Bonnie an den Stuhl und drehst in Richtung Bett. Sie wird sich alles ansehen.“ Der Mann klingt fast glücklich, glücklich, mir Qualen zuzuführen und mich zu zerstören. Mum hört auf ihn, sie fesselt mich an den Stuhl und richtet den zum Bett. Nun sitze ich da, starre auf ihr großes Bett und weiß nicht, was ich tun soll. In meinem Inneren spielen sich all die positiven Erinnerungen ab. Wir haben in diesem Bett gekuschelt, als sie mich getröstet hat nach einem Alptraum. Wir haben hier eine Kissenschlacht veranstaltet und hatten den Spaß unseres Lebens. Ich habe ihr Frühstück ans Bett gebracht zum Muttertag. Es sind so viele wundervolle Erinnerungen und ich weiß, dass was jetzt passieren wird, wird all das zerstören.

„Zieh dich jetzt aus und setz dich aufs Bett.“ Der kleinere Mann spricht zum ersten Mal. Seine Stimme klingt unsicher, unterwürfig. Ich weiß nicht, er macht mir nicht so große Angst wie der andere Mann. Mum sitzt auf ihrem Bett, nackt und beschämt. Die rosafarbene Bettwäsche strahlt eine Geborgenheit aus, die für diese Situation einfach nur unpassend erscheint. Der große Mann geht zu ihr hin und fesselt sie ans Bett. Sie liegt wie ein Seestern da, starrt an die Decke und wünscht sich, vermutlich woanders zu sein.

Ich zucke zusammen. Es ist so laut, die Musik. Was ist das? Für einen Augenblick habe ich das Gefühl, meine eigenen Gedanken nicht hören zu können. Mum und ich sind alleine im Raum, aber nur kurz. Sie bringen einige Taschen in den Raum hinein und bauen alles auf. Das Equipment, die Kamera, die Kleidung und die Musik scheinen genau aufeinander abgestimmt zu sein. Die Kamera ist genau auf das Bett gerichtet, die Männer haben ihre graue Uniform abgelegt und sind komplett in schwarz gekleidet, die Gesichter so verhüllt, dass ich sie nicht erkennen kann. Das Equipment liegt ausgebreitet auf der Sitzbank vor dem Bett. Messer, Hammer, Säge, Elektroschocker, Fesseln und andere Dinge, für die ich eindeutig zu jung bin. Die Musik - „Gimme Shelter“ von den Rolling Stones. So laut, dass man nichts anderes hören kann. Die Vorbereitungen scheinen abgeschlossen zu sein - die Vorführung kann beginnen. Der kleine Mann tanzt zur Musik, Richtung Kamera und dann meiner Mum zugewandt. Es ist für ihn eine Show, eine Show, die er für sich, meine Mum und die Kamera veranstaltet. Er tanzt um das Bett herum, wie ein Irrer mit perfekten Tanzschritten, während der größere hinter der Kamera steht. Der Mann nimmt einen Hammer, tanzt mit ihm fröhlich und im nächsten Augenblick schlägt er damit meine Mum. Sie schreit. Sie schreit so laut, es geht. Aber niemand kann sie hören, zumindest außerhalb der vier Wände nicht. Sie kämpft mit den Schmerzen, aber im nächsten Augenblick vergewaltigt er sie. Als er fertig ist, nimmt er ein Messer und schneidet lange Linien in ihren Körper. Es sieht qualvoll aus und ich wünsche mir, dass sie schon tot ist, damit sie nichts spürt. Aber sie lebt - und das weiß er auch. Er vergewaltigt sie erneut und führt wieder Messerstiche und Linien durch. Immer und immer wieder. Vergewaltigung - Schmerz; immer abwechselnd. Es scheint ewig zu dauern. Von meiner Mum ist nicht mehr viel übrig, aber sie lebt noch. Nein, das darf einfach nicht sein. Sie dreht den Kopf zu mir und sieht mir tief in die Augen. Für eine Sekunde spüre ich ihren Wunsch. Ich spüre, wie sie sich wünscht, dass ich ihre Stelle einnehmen würde. Und sofort spüre ich ihre Scham; ihre Scham, dass sie sich wünscht, dass ihrem Baby so etwas passiert. Sie dreht sich weg und scheint sich ihrem Schicksal ergeben zu wollen.

„Mum, ich liebe dich. Und ich würde es für dich tun!“ Sie dreht sich wieder zu mir, spüre kurz ein liebevolles Funkeln in ihren Augen und sehe Tränen. Sie weiß es, ich weiß es und die beiden Männer wissen es. Meine Mum wird sterben. Sie wird sterben, ohne Würde, ohne Worte und komplett entblößt.

Dann ein dumpfer Schlag. Die Musik ist aus. Die Akustik, die meine Gedanken verdrängt hat, schenkt mir komplette Stille. Obwohl ich nicht weiß, ob ich dieses Geschenk haben will.

Ich sehe Mum und ich weiß sie ist tot. Tränen laufen mir übers Gesicht und ich fange an zu schreien. Ein starker Schmerz durchströmt mich und - komplette Dunkelheit.

„Das ist deine Bestrafung Bonnie. Du hast nicht auf mich gehört, hast die Augen geöffnet und gesehen - gesehen, wer wir sind. Wir können nicht zulassen, dass du auspackst. Wie du spürst, haben wir dich an Annie gefesselt. Du kannst dich nicht bewegen und du kannst sie nicht bewegen. Du bist gezwungen entweder deine Augen zu schließen oder deiner Mum in die Augen zu sehen. Zu sehen, was sie mal für ein Mensch war und nun nicht mehr ist. Du wirst nicht sterben, du wirst gefunden und wirst den Schmerz für immer bei dir tragen. Das nächste Mal hörst du auf das, was man dir sagt. Auf Wiedersehen.“

Ich wache aus einer Erinnerung auf und plötzlich komplette Stille. Nichts. Die Männer sind weg, die Musik ist aus und die Nachbarn sind still. Es ist bedrückend, seinen eigenen Körper zu hören und nichts machen zu können. Ich liege nur da, schaue meine Mum an und streichle ihr übers Haar. Ich werde sie beschützen und werde sie nicht alleine lassen. Ich streichle ihr so lange über ihr Haar, bis ich einschlafe.

Die milchigen Flüssigkeiten, die mal die Augen meiner Mum waren, werden dunkel. Ich will nicht mehr leben. Ich will zu ihr und bei ihr sein können. Die Sterblichkeit wird mir bewusst. Ich rieche es, ich rieche, wie ihr Körper sich langsam auflöst. Vielleicht riechen es auch die Nachbarn und sie werden mich finden? Eigentlich will ich gar nicht gefunden werden. Ich will nirgendwo hin, nur zu Mum in den Himmel.



Über die Autorin:

Anna T. (geboren 1997) lebt in NRW, Nähe Düsseldorf. Sie befindet sich aktuell in Umschulung zur Kauffrau für Büromanagment.

Die aus Sachsen stammende Autorin zog vor 1,5 Jahren in den Westen, wo sie ihr Leben komplett neu gestaltet. 

Instagram: hellou_anna


Die Schattenspielerin

von Laura Pellizzari

Triggerwarnung: Tod, Tod eines Kindes


Ich beobachtete, wie das kleine blonde Mädchen in der viel zu warmen Oktobersonne spielte, während ihr Eis über die kleinen Finger tropfte. Vanille, Mango, Maracuja oder auch Zitrone mit ordentlich vielen Chemikalien. Vielleicht war es auch so ein besonderes Herbsteis, wie es die Menschen in den letzten Jahren zu lieben begonnen hatten, etwas, was sie Kürbisgeschmack nannten. Auf jeden Fall eine ordentliche Zuckerbombe. Könnte Diabetes auslösen, Arterienverkalkung, Krebs, Alzheimer, die üblichen Problemchen, die das Alter in der modernen Welt mit sich bringt – wenn sie denn so alt werden würde.

Für das Mädchen war das Eis kein so großes Privileg, wie es für sie sein sollte. Was würde ich dafür geben, noch einmal so ein Eis essen zu können. Nur noch einmal. Oder zumindest die stille Freude empfinden zu können, die ich zu fühlen pflegte, wenn die gefrorene Sahne in meinem Mund zerfloss. Doch für das Mädchen war es nur ein Eis, vielleicht schon das zweite oder dritte diese Woche, nichts Besonderes. Ihr Schatten war interessanter, viel spannender. Hob sie ihre linke Hand spiegelte die schwarze Gestalt am Boden sie. Sprang sie, tat die Figur es ihr nach, nur um dann eine Sekunde später schon wieder an ihren Sohlen zu kleben. Für die Kleine schien das ziemlich faszinierend zu sein, immer und immer und immer wieder zu springen und zu landen und ihren Schatten dabei zu beobachten, wie er es ihr gleich tat. Dann lief das Mädchen, so schnell, bis sie nur noch keuchte, viel zu schnell für das noch heiße Wetter. Sie hatte keine Chance, den Schatten abzuhängen, nie. Minutenlang hetzte sie hinter ihm her, quer über den Platz, einmal so nahe an mir vorbei, dass sie mich hätte sehen müssen, wenn ich denn für sie sichtbar gewesen wäre. Doch das war ich noch nicht. Ein bisschen noch, ein paar Minuten. Dann würde sie mich sehen und schon jetzt hasste ich den Schrei, den sie ausstoßen würde, den alle ausstießen, wenn sie mich zum ersten Mal sahen.

Hätte ich noch mein Herz, würde es mir Spaß machen, das Mädchen zu beobachten. Ihre Freude wahrzunehmen. Früher, in einem anderen Leben, hätte sich jetzt eine Wärme in mir ausgebreitet. Doch alles, was ich in diesem fühlte, war Leere, so wie ich es immer tat. Was ich sah, löste nichts in mir aus. Nicht mehr. Wenn ich daran dachte, was ich gleich würde tun müssen, spürte ich nichts. Nur die immergleiche Leere. Gut, dass ich kein Herz mehr hatte. Denn so war es nur noch ein Auftrag für mich, eine Erledigung wie jede andere auch. Die erste von vier Stationen heute. Nicht aufreibender, als einen Liter Milch im Supermarkt zu kaufen. Nach ein paar Jahrzehnten hörte man auf, mit jeder Person mitzufühlen. Jeder Funke Mitleid war vergeudet, denn es würde nichts ändern. Was geschehen würde, musste geschehen. Und es musste durch mich geschehen.

Nur ein Fingerdeut, ein paar geflüsterte Worte. Keine großen Gesten, kein Lärm. Es reichte auch so: Der Schatten hatte sich von den Fersen des Mädchens gelöst, das wahre Wettrennen konnte beginnen. Das Mädchen quietschte und schrie vor Vergnügen, jagte der schwarzen Gestalt mit Feuereifer nach, die Tüte Eis fast geschmolzen und längst vergessen in ihren Händen. War ja nur gezuckerte Sahne, ihre Eltern würden ihr sicher eine neue kaufen, wenn sie sie darum bat. Das Spiel mit dem Schatten wiederum, das würde sie nie wieder erleben. Das war einmalig, das erkannte auch sie schon.

Runde um Runde rannten die beiden über den Platz, ihr Schatten nie mehr als nur einen Meter vom Mädchen entfernt. Nie so weit von ihr entfernt, dass die Menschen um sie herum erkennen könnten, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Noch eine Runde um den Platz und noch eine. Die Augen an ihren Schatten geheftet, nichts anderes war mehr wichtig, nichts anderes würde je wichtiger sein als dieser Schatten, der wundersamerweise tatsächlich ein Wettrennen mit ihr machte. Die Eistüte, die sie irgendwann fallen ließ, war unwichtig. Die Rufe ihrer Eltern hörte sie gar nicht. Der Schrei der Passanten brachte sie nicht mal dazu, aufzusehen. Schade, denn sonst hätte sie vielleicht das Auto entdeckt, dass da auf sie zuraste, während sie dem Schatten weiter hinterherlief, raus auf die Straße. Sie schien nicht mal zu realisieren, dass sich der Untergrund unter ihrem Boden verändert hatte. Keine Kopfsteinpflaster mehr, Asphalt.

Aber selbst wenn sie es realisiert hätte, hätte es nichts gebracht. Denn sie war unter meiner Macht, unter meinem Fluch, der sie dazu brachte, stur weiterzujagen und zu vergessen, dass die Welt um sie herum existierte.

Sie schrie nicht, als das Auto sie zu Boden stieß, dafür taten es ihre Eltern. So laut, dass sie es nicht hörten, wie ihre Knochen brachen, Oberschenkel, Handgelenk, Hüfte, Wirbelsäule, Schädel. Sie war sofort tot, aber das konnten ihre Eltern, die nun zu ihr rannten, nicht wissen. Für sie gab es noch Hoffnung, nur einen Hauch, an dem sie festhalten würden, zumindest, bis der Krankenwagen eingetroffen war, der von den anderen Menschen in der Umgebung gerufen wurde. Für mich gab es keine solche Hoffnung. Denn ich sah, dass das Mädchen am Straßenrand stand. Sie sah sich suchend um, hatte ihren Schatten aus den Augen verloren. Kein Wunder, denn nun hatte sie keinen mehr. Als ihre Augen über ihre Eltern glitten, die ihren leblosen Körper im Arm hielten, ihn hin und her wogen, als wäre sie wieder ein Neugeborenes, öffnete sich ihr Mund zu einem kleinen „Oh“. Sie verstand nicht, was da passiert war, natürlich nicht, war ja noch ein Kind. Sah nur ihre Eltern, ihren Schmerz und die kleine Gestalt, die irgendwie aussah wie ihr Spiegelbild, aber auch wieder nicht ganz, nicht, wenn ihre Gliedmaßen auf solch groteske Art von ihrem Körper abstanden. Sie rief etwas, doch ihre Eltern hörten sie nicht. Rief nochmal, bekam aber keine Reaktion. Natürlich nicht. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, dabei wanderte ihr Blick weiter, bis er an mir hängen blieb. Eine schwarze Gestalt, Gesicht verdeckt von einer schwarzen Kapuze, die ruhig dastand, als einzige Person auf dem ganzen Platz. Sie starrte und starrte und ihre Lippe begann zu zittern. Es überraschte mich nicht, denn ich musste das Schrecklichste sein, das sie in ihrem gesamten bisherigen Leben gesehen hatte. Gut, dass ich nur der Übergang war, nicht das Ende. Was später kommen würde, würde ihr besser gefallen, da war ich mir sicher. Also streckte ich die Hand nach ihr aus, knochig wie sie war. Sie schreckte nicht zurück, starrte nur gebannt weiter auf mich, beobachtete alles, was ich tat. Noch weinte sie nicht und ich hoffte, dass es so blieb. Es war so viel einfacher, wenn sie nicht weinten und einfach mitkamen. Also bemühte ich mich um meine freundlichste Stimme. Sie konnte ja nichts dafür, für meine Situation, für mein Aussehen, meinen Fluch. Das konnte nur ich.

„Kommst du?“



Über die Autorin:

Laura Pellizzari (geboren 1999) lebt in Tirol und in Salzburg. Sie studiert Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaften und betreibt die Seite „Miras Bücherwelt“. Im Sommer 2023 hat sie ihr Debüt „Die Schauspielerin“ veröffentlicht, davor hat sie bereits an mehreren Anthologien mitgewirkt.


Bisherige Veröffentlichungen:

Mehrere Kurzgeschichten in der Anthologie „Gedankenchaos“ (2023)

„Die Schauspielerin“ (2023)

„Mein Stück des Himmels“ in der Literaturzeitung „Veilchen“ (2021)

„Heimatdreieck“ in der Anthologie „All over Heimat“ (2019)

„Die Mauer“ in der Anthologie „Ziegelsteiner Auslese“ (2018)

Gastbeitrag: Das Lavendelfeld

von Anita della Donna


Triggerwarnungen: Gewalt in der Beziehung, Gewalt im Allgemeinen


Liebe – was verbirgst du? Was tust du für sie? Deine Seele verkaufen? Töten? Sterben? Ist Liebe Opfer? Sie nahm, was ich dachte, dass sie sei.


In einem verschwiegenen Dorf, wo endlose Lavendelfelder wie dunkle Wellen im sanften Wind tanzten und der betörende Duft der Blumen die Sinne bezauberte, residierte eine sinnliche Frau von atemberaubender Schönheit: Evangeline. Ihr schwarzglänzendes Haar, das ihr Gesicht wie ein Rahmen umgab, die vollen, roten Lippen und die makellose, mondbeschienene Haut verliehen ihr eine Aura der Mystik. In ihren großen, rehäugigen Augen schien eine geheime Welt zu schlummern, eine Welt, die sie entschlossen hinter einem Schleier des Schweigens bewahrte. Evangeline, die Bewahrerin der uralten Magie, schöpfte ihre Kräfte aus den märchenhaften Lavendelfeldern, und ihr Wissen und ihre Macht waren von ungeahnter Tiefe.

Ihr Herz, erfüllt von unaufhörlichem Mitgefühl, leitete sie dazu, ihre Magie im Verborgenen zu nutzen, um den Dorfbewohnern und den Kreaturen des Waldes beizustehen. Doch dies sollte niemals das Licht der Öffentlichkeit erblicken, denn die Magie barg düstere Geheimnisse in sich.

In einer schicksalhaften Nacht, als der silbrige Vollmond den Himmel regierte und die Sterne in ihrer vollen Pracht leuchteten, betrat ein mysteriöser Wanderer das Dorf. Seine langen, blonden Haare und seine eisblauen Augen verliehen ihm ein düsteres und geheimnisvolles Erscheinungsbild. Als sich die Blicke von Evangeline und dem geheimnisvollen Fremden zum ersten Mal kreuzten, entfachte zwischen ihnen ein Liebesfeuer von erstickender Leidenschaft. In den sternenübersäten Stunden der Nacht, hörte sie von ihm, dass er Gabriel hieß, ein Dieb und ein Freigeist. Evangeline, die das Gute in jedem Menschen suchte, versuchte, ihn zu verstehen und hoffte auf eine Veränderung. In einer dieser Nächte, nachdem ihre Seelen sich in leidenschaftlicher Vereinigung vereint hatten, entdeckte sie auf Gabriels linkem Arm einen tätowierten Kompass und fragte sanft: "Welche Bedeutung trägt dieser Kompass für dich?" Er küsste sie leidenschaftlich und antwortete: "Er zeigt mir den Weg zu dem, wonach meine Seele sich sehnt - er führt mich immer wieder zu dir."

Die Nächte verstrichen unter dem Silbermond, geprägt von tiefen Gesprächen und sinnlichen Berührungen, doch der Dieb blieb bei seinen Wegen und wünschte sich, in Freiheit zu leben.

Schließlich trennten sich ihre Wege, obwohl ihr Herz ihm gehörte.

Jahre zogen ins Land, und in einer stürmischen Nacht ritt Evangeline durch die Lavendelfelder, als sie ein brennendes Haus entdeckte. Ihre Intuition trieb sie dazu, zu helfen, und sie fand einen schwer verletzten Mann, dessen Gesicht von den Flammen entstellt war - aber sie sah den linken Arm des Mannes, sie sah das Tattoo, das er hatte: einen Kompass. Es war Gabriel, ihr Gabriel. Inmitten der finsteren Nacht konnte sie nicht tatenlos zusehen, wie der Tod grausam die Liebe ihres Lebens verschlang. "Nein, du wirst ihn nicht aus meinem Herzen reißen, niemals!", schrie sie verzweifelt in die Dunkelheit. Der bleiche Mond, Zeuge des Schreckens aus der Ferne, rief ihr entgegen: "Ich weiß, was du vorhast. Du darfst nicht den Pfad des Verderbens betreten, es liegt nicht in deiner Macht. Egal wie sehr du ihn liebst, die Konsequenzen werden entsetzlich sein. Tu es nicht!" Doch Evangeliene war in ihrem Entschluss gefangen: "Ich werde selbst die düstersten Konsequenzen auf mich nehmen!" Der Mond, voller Schrecken, mahnte sie: "Die Dunkelheit wird dich verschlingen, die Dunkelheit wird alles von dir rauben!"

Verzweifelt griff Evangeline nach den verbliebenen Überresten ihrer uralten Magie, vereinte die Kräfte der Natur und der Liebe in einem uralten Ritual und schuf eine Verbindung zwischen ihm und dem Duft des Lavendels, der den Ort erfüllte. Doch die Magie verlangt immer ihren Preis, und Evangeline wusste, dass sie bereit war, alles zu opfern, um ihn zu retten. In einem blutigen Ritus verströmten sie und Gabriel ihr Blut in die Lavendelfelder, während die Dunkelheit der Nacht und die Stille der Blumen um sie herumwirbelten. Sie brachte Gabriel, dessen Körper fast leblos war, nach Hause und schlief an seiner Seite ein. Als der nächste Tag anbrach, zeigte Gabriels Gesicht keine Spur mehr von Verletzung. Als er seine Augen öffnete, durchzuckte ihn ein Schmerz, der förmlich aus seiner Seele zu kommen schien. "Nein, nein, ich lebe, ich lebe noch!", schrie er verzweifelt, als ob er sich davor fürchtete, zurückgekehrt zu sein. Evangeline erwachte vor Schreck aus ihrem Schlaf und stammelte: "Was ist passiert? Gabriel, ich bin hier, Evangeline... ich..." Gabriel unterbrach sie mit einem Ausbruch von Wut und Verwirrung. "Oh, Evangeline, meine Evangeline, wie oft habe ich von deinem Gesicht geträumt. Aber das hier fühlt sich an wie ein Albtraum. Ich war tot, fast befreit von all dem Elend. Warum bin ich zurück in dieser verdammten Welt?"

Evangelines Herz schlug rasend, während sie ihm erklären wollte, dass sie ihn gerettet hatte, doch eine tiefe Angst überkam sie. "Erzähl mir, was passiert ist, mein Gabriel", flehte sie.

Gabriel antwortete mit einem Schmerz in seinen Augen: "Evangeline, meine Evangeline, es sind Jahre vergangen, seitdem wir uns zuletzt sahen. Mein Herz hat immer dir gehört, aber ich habe eine Tochter bekommen, Valeri, hieß sie. Sie hatte blonde Locken und strahlend blaue Augen, ein wahrer Engel. Aber sie wurde wegen mir umgebracht, Evangeline. Wegen mir. Ich trage die Schuld an ihrem Tod. Sie haben unser Haus in Flammen gesetzt, und als ich dort ankam, war es bereits zu spät. Also stürzte ich mich in die Flammen, um zu sterben, Evangeline."

Evangeline, von Verzweiflung erfüllt, fragte: "Wer hat das getan?"

"Mächtige Menschen, mit denen ich mich angelegt habe", erwiderte Gabriel. "Ich möchte sterben, Evangeline. So kann ich nicht weiterleben. Erzähle mir, was passiert ist."

Evangelines Herz war erfüllt von Schmerz und Angst, daher erzählte sie ihm nur von dem Moment, als sie ihn gefunden und nach Hause gebracht hatte. Sie erzählte ihm nicht von ihren Zauberkräften.

In der nächtlichen Stille standen beide vor dem Haus, das nun nichts als ein Haufen Staub und Verwüstung war. Gabriel weinte bitterlich, seine Schreie durchdrangen die Dunkelheit.

Die Nächte verstrichen, und Evangeline hütete ihr düsteres Geheimnis. Doch in einer dieser finsteren Stunden trat Gabriel in ihr Schlafgemach und flehte, ihre Wärme zu spüren. "Ich verlange nach Liebe, Evangeline", flüsterte er. "Darf ich mich an dich schmiegen?" Sie nickte und zog ihn näher zu sich. Während sie sich küssten, begann eine schaurige Verwandlung und Gabriel verwandelte sich in ein monströses Werwesen, ein Geschöpf des Schreckens.

In diesem furchterregenden Augenblick ertönte die donnernde Stimme des Mondes, der Evangeline anklagte: "Ich habe es dir gesagt: Die Dunkelheit wird dich verschlingen!"

Panisch rannte Evangeline davon. Der blutdürstige Werwolf verschwand durch das Fenster, und Evangeline schrie vor Schmerz: "Was habe ich meiner Liebe angetan? Ich habe dich verflucht! Oh, bitte verzeih mir!" Ihre Schreie zerrissen die Nacht, während sie ein Pferd ergriff und dem Werwolf folgte, um ihn aufzuhalten, bevor er weiteres Unheil anrichten konnte.

Doch es war zu spät. Als sie das Dorf erreichte, das sie so sehr liebte, sah sie nur noch das Chaos. Blut und Leichen waren allgegenwärtig, und die Menschen, die sie so innig geliebt hatte, waren zu Opfern des schrecklichen Werwolfs geworden.

"Oh, Evangeline, was hast du getan? Man kann nichts retten, was sich nicht retten lassen will. Es ist nicht deine Bestimmung, meine Evangeline", mahnte der Mond sie eindringlich.

"Ich weiß, Mond, aber ich liebe ihn so sehr", flüsterte sie mit Tränen in den Augen. "Liebe allein reicht manchmal nicht aus, mein Herz. Du kannst das Herz eines Menschen nicht ändern. Gabriel war schon vorher von Dunkelheit umgeben. Du weißt, ich bin der Mond, und ich weiß alles. Er war kein Dieb, mein Stern; er war ein Mörder. Die mächtigen Menschen, von denen er dir erzählt hat, haben sich an ihm gerächt, weil er deren Tochter für Geld getötet hat. Sie wollten ihn umbringen und haben versehentlich auch seine Tochter getötet. Deshalb hat er sich in einen Werwolf verwandelt, denn die Dunkelheit wohnte bereits in ihm", erklärte der Mond.

Evangeline konnte es nicht glauben und schrie verzweifelt: "Nein, Mond, nein, du lügst! Mein Gabriel würde so etwas niemals tun!"

Der Mond antwortete mit trauriger Stimme: "Aber siehst du nicht, was er hier angerichtet hat, mein Stern?"

Evangeline brach in Tränen aus: "Nein, das ist alles meine Schuld. Ich habe ihn zu diesem Ungeheuer gemacht, weil ich egoistisch war. Ich werde ihn retten."

Am nächsten Tag fand sie ihn nackt auf einem Feld liegen. Sie bedeckte ihn und brachte ihn nach Hause. "Evangeline, was habe ich getan? Ich erinnere mich an alles, aber ich hatte keine Kontrolle", gestand Gabriel, seine Stimme voller Verzweiflung. "Evangeline, meine Retterin, wie ist das möglich? Ich wurde verflucht."

Evangeline wagte es nicht, ihm die schreckliche Wahrheit zu sagen, denn sie fürchtete, wie er reagieren würde, wenn er davon erfahren würde.


Bei jedem Vollmond verwandelte er sich, und Evangeline suchte verzweifelt nach einer Lösung, um den Fluch zu brechen und ihn zu erlösen. Eines Tages fand sie eine alte Hexe, die ihr enthüllte, dass es nur einen Weg gab, den Fluch zu beenden, aber dieser Weg war mit einem hohen Preis verbunden: "Wer auch immer den Fluch gesprochen hatte, muss vergehen, Erst dann kann der Mann aus diesem Fluch auferstehen."

Evangelines Herz war von Güte erfüllt, und sie konnte dieses Geheimnis nicht länger in sich tragen. Sie war sich sicher, dass Gabriel sie verstehen würde, denn schließlich liebte er sie.

Sie ging zu ihm und küsste ihn leidenschaftlich. Dann gestand sie ihm alles, wie sehr sie ihn liebte, dass sie ihn niemals hatte verfluchen wollen, und sie erklärte ihm, wie er den Fluch brechen konnte.

Gabriel liebte Evangeline, so sehr, wie er dazu fähig war. Doch sein Herz war von Dunkelheit und Egoismus durchdrungen. Er nahm Evangeline in seine Arme und sagte: "Ich liebe dich, Evangeline, wirklich. Aber so möchte ich nicht weiterleben." Mit diesen Worten verwandelte er sich und griff Evangeline gewaltsam an, biss sie in den Hals, sodass sie zu bluten begann. Dann aß er ihr Herz auf, während sie vor Schmerz schrie.

Der Mond trat auf und sprach: "Du hast ein so wundervolles Wesen getötet, wie konntest du nur?"

Gabriel antwortete mit Schmerz in seiner Stimme: "Sie hat mich verflucht, ich dachte, so würde ich meinen Frieden finden. Warum lebe ich noch?"

Der Mond erklärte: "Nicht sie hat dich verflucht, Gabriel, du hast dich selbst verflucht mit deinen Taten. Doch du bist nun unsterblich, du kannst den Fluch nicht brechen. Du wirst für die Ewigkeit mit ihm leben müssen."


Lavendelfelder, süßer Duft der Blumen und das sanfte Licht des Mondes. Evangeline wachte auf. Sie fühlte sich verloren, als wäre sie aus einem schrecklichen Albtraum aufgewacht. “Es war nur ein Albtraum” Ihre Blicke wanderten zu ihrer Wade, auf der sich ein blauer Fleck ausbreitete. Gabriel, ihr Freund, hatte sie gestern in einem heftigen Streit so sehr verletzt, dass sie die Treppe hinuntergestürzt war. Das war nicht das erste Mal gewesen, dass er sie misshandelt hatte. In diesem Moment erkannte Evangeline, dass Gabriel sich Hilfe suchen musste. Sie wusste, sie musste sich von ihm trennen, sich selbst lieben und sich vor weiterem Schaden bewahren. Ihr Handy läutete, und auf dem Display stand der Name "Gabriel". Doch sie entschied sich, den Anruf nicht entgegenzunehmen.


Über die Autorin

Anita della Donna ist eine leidenschaftliche Liebhaberin von Kunst, Schreiben und Tanz. Nach ihrem Studium an der Universität zu Köln tauchte sie in die Welt der Deutsch-Italienischen Gesellschaft ein. Dort war die Autorin als Dozentin für Kinder aktiv und begleitete insbesondere Familien mit italienischem Migrationshintergrund, um ihnen bei der Integration in Deutschland zu helfen. In Vorbereitung auf ihre kommende Reise als Kunsttherapeutin in Köln verknüpfe die Autorin ihre Liebe zur Kunst mit dem Wunsch nach Heilung und Kreativität. Derzeit arbeitet Anita an einem Projekt in Köln namens "Das kreative Frauen Café", das Frauen unterschiedlicher Kulturen zusammenführen soll. Als Autorin hat sie die Bücher "Und der Mond sah alles", "Und der Mond sprach" und "Mondeshauch" geschrieben, die im Zusammenhang mit dem StoryOne-Wettbewerb entstanden sind.

Dunkel, und voller Dornen

von Tine Kulgart

 

Triggerwarnung: Gewalt, Blut, angedeutete nicht-einvernehmliche sexuelle Handlungen, Mord


„Ein Gancanagh ist schwer zu finden.“


Dies waren die ersten Worte, die der König des Unseelie-Hofs an ihn gerichtet hatte. Ihn, eine Fee ohne Hof, ohne Zugehörigkeit. Es gab nicht mehr viele von ihnen. Die meisten hatte man früher oder später überzeugt, sich einem Hof zuzuwenden – Schatten oder Licht, Chaos oder Ordnung, Seelie oder Unseelie. Doch für ihn hatte es immer mehr als nur schwarz und weiß gegeben. Von Geburt an bewegte sich Ciaran in Grauzonen.

Gancanagh. Liebesflüsterer – eine Unterart der Feen, deren Berührung süchtig machte und Menschen dazu trieb, Unsagbares zu tun, nur um diese Berührung noch einmal zu erfahren. Die meisten, die mit dieser Fähigkeit geboren wurden, liebten jede Sekunde davon. Sie sehnten sich nach der verzweifelten Liebe – oder nach dem, was Menschen im Wahn noch als Liebe ansahen. Es war rein körperlich, brennende Lust, von der sich der Unseelie-König und sein gesamter Hof nährte.

Ciarans Mutter hatte ihn bewusst von den Höfen ferngehalten, sobald sie gesehen hatte, dass er mit dieser Gabe – Fluch und Segen zugleich – geboren worden war. Zusammen mit ihr hatte er ein fast normales Leben geführt, auch wenn er sich an Regeln halten musste. Sieh ihnen nicht in die Augen. Beantworte keine Fragen, die du nicht verneinen kannst. Gehe niemals mit ihnen, wenn sie dich einladen.

Feen konnten schließlich nicht lügen.

Fast einundzwanzig Jahre lang hatte er es geschafft, den Mitgliedern des Unseelie-Hofes aus dem Weg zu gehen. Einundzwanzig Jahre, ruiniert durch einen einzigen unachtsamen Augenblick.

Der König lachte, und Schatten erhoben sich hinter ihm. „Gancanaghs gehören zum Unseelie-Hof. Du weißt es, deine Mutter weiß es. Sie hätte dich besser verstecken müssen, wenn sie dich wirklich schützen wollte.“
„Lass meine Mutter aus dem Spiel.“
„Oh sieh an, es spricht. Komm mit mir, Ciaran. Es wird nicht zu deinem Schaden sein.“

Die Erwähnung seines Namens ließ ihn zusammenzucken. Namen hatten Macht, auch wenn er nicht wusste, wieso Feen-Adel seinen Namen kannte. Wieder schmunzelte der König und griff nach seinem Handgelenk, während scharfkantige Fingernägel sich in Ciarans Haut bohrten. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten – entweder du kommst freiwillig oder ich lasse dich holen.“


*


Die Feenwelt existierte, nur von einem dünnen Schleier getrennt, neben der Welt der Menschen. Nur wenige konnten durch den Schleier hindurchsehen, denn das Feenvolk war stets darauf bedacht, im Geheimen zu wandeln. An manchen Tagen im Jahr wurde der Schleier dünner: an Samhain, zum Beispiel, und in den eisigen Rauhnächten zwischen den Jahren.

Mit der Zeit hatten die Menschen gelernt, eine Welt zu erschaffen, die Feen – egal ob versteckt oder nicht – nicht mehr mit offenen Armen begrüßte. Eine Welt voller Stahl, in der grüne Wälder und Parks zunehmend verschwanden. Hier, zwischen hohen Häusern aus Beton und Glas, war Ciaran aufgewachsen – fernab von allem, was sein Volk ausmachte.

Doch als er auf dem Schoß des Königs saß und das Chaos vor ihm beobachtete, dachte er im Stillen, dass er nichts verpasst hatte. Der Hof der Unseelie war ein Ort voller Dunkelheit. Verborgen in einem einer Burgruine tief im Wald, die nur für das menschliche Auge verfallen schien, traf sich all das Volk, das sich von Schmerz und Elend nährte. Wie Geier saßen und standen Mitglieder des Hofes im Thronsaal, der von einem Podest aus Turmalin dominiert wurde. Der Thron war aus dem gleichen Material, und darauf saß der König – umgeben von Schatten, seinen neuesten Fang auf dem Schoß, und einen Arm besitzergreifend um den Feenjungen gelegt.

Der Boden war blutbefleckt, mit zahllosen Fußspuren. Eine Sommerelfe kämpfte gegen zwei Feen, die sie um mehr als einen Kopf überragten und ihr einen Mantel aus Rosendornen umlegten. An den Wänden hingen Tierschädel wie Jagdtrophäen, und von den Geweihen tropften Blut und Eingeweide.

Ein Duft von Tod und Schmerz lag in der Luft wie Parfüm, während die langsame Musik eines Quintetts die Laute von Folter und Pein nicht überdecken konnte. Doch der Hof gedieh, als ob das Blut sein Wachstum wässerte. Feen tanzten in Pfützen von Blut und schmiegten sich an jene, die an Pfeiler und Wände gefesselt um Gnade flehten, als seien es Liebhaber.

Ciaran blickte auf all den Schmerz um ihn herum und wünschte sich weit weg – umso mehr, als er die Blicke von manchem Halbling auf sich spürte. Seit jeher hatte der Unseelie-Hof auch jene aufgenommen, deren Blutlinie von anderen Einflüssen verwässert worden war.

„Sie sehnen sich nach deiner Aufmerksamkeit, deiner Berührung. Wirst du ihnen die Ehre erweisen?“, wisperte der König in sein Ohr und strich ihm eine Strähne des langem, ebenholzfarbenen Haares hinter das spitze Ohr.
„Nein.“
„Nein?“

„Kalt wie ein Fisch, euer neuester Fang“, lachte ein Feenritter in pechschwarzer Uniform, der neben dem Thron postiert war.

Ich habe Fische mit heißerem Blut gesehen“, entgegnete der König, bevor sich seine krallenbewehrte Hand um Ciarans Kehle schloss. „Hör gut zu – du bist an meinem Hof und beugst dich meinem Willen. Niemand wird dir hier zur Seite stehen.“

Und dennoch blieb Ciaran regungslos, sein Körper steif, wie gefangen in rigor mortis.


*

Du wirst lernen, es zu genießen.“

Es klangt mehr wie eine Drohung als ein Versprechen, und der kalte Atem des Unseelie-Königs strich über Ciarans Haut, während sich seine Hände in das Laken unter ihm gruben. Sein Blick war auf die Decke gerichtet, Stuckverzierungen mit Puten, die einander jagden. Er wünschte, er hätte Flügel, um diesen Ort zu verlassen.

„Kalt wie ein Fisch, tatsächlich.“

Endlich rollte sich der König zur Seite, und die Matratze sank unter seinem Gewicht ein. „Wir finden schon etwas, das dich berührt.“

Ciaran antwortete nicht. Sein Schweigen war schon immer seine größte Stärke gewesen.


*

Zeit verging am Unseelie-Hof langsamer und schneller zugleich, bis sich jeder Tag zu ähneln begann. Ciaran erwachte mit dem König und speiste mit ihm, bevor er sich wie eine Schaufensterpuppe auf dem Schoß des Herrschers platzierte und jeden Tag aufs Neue die Qualen und Foltern mit unbewegter Miene beobachtete. Er tolerierte die Berührungen, ohne sie jemals zu erwidern – seine Lippen blieben geschlossen, egal wie tief sich Fangzähne in das zarte Fleisch bohrten. Du wirst lernen, es zu genießen.

Er lernte, seinen Widerwillen hinter einer Maske von Gleichgültigkeit zu verstecken.


„Lass uns ein Spiel spielen.“

Ein Seil aus Seide legte sich um seinen Hals, als sie alleine waren – die Gemächer des Königs ein Hort voller Alpträume, mit schweren Vorhängen, die jegliches Tageslicht ausschlossen. „Das Seil gegen deine Hände – wer wird länger aushalten?“

Und dieses eine Mal lächelte Ciaran, als sich das Seil langsam schloss und gegen seine Kehle drückte, seine eigenen blassen Hände um den Hals des Königs gelegt. Beinahe liebevoll, beinahe zärtlich. Er hatte lange genug still gehalten, hatte Wochen des Leids ertragen.

„Ein Gancanagh ist schwer zu finden – willst du das wirklich riskieren?“, flüsterte er, als sein Sichtfeld verschwamm.

Seine Finger drückten zu, während er an all die Dinge dachte, die er gesehen hatte – die blutenden Körper, die sich vor Schmerzen wanden, die tränenbenetzten Gesichter, die um Gnade bettelten, und sein eigenes Spiegelbild, das nach jeder Nacht ein wenig mehr schwand.

„L-lass... lass los.“
„Nein.“

Der Druck um seinen eigenen Hals schwand, während die Atemgeräusche des Königs mehr und mehr nach den Klagelauten all derer, die ihr Leben am Hof gelassen hatten, klang. Ein Zucken durchlief seinen Körper, bevor er endlich nach vorne fiel.

Im letzten Moment ließ Ciaran los und erhob sich, während die Krone aus schwarzem Holz und Dornen auf das dunkle Laken rollte. Instinktiv griff er danach und wog sie in seinen Händen – Hände, die nun ein Leben genommen hatten.


Die Tür zum Schlafzimmer wurde aufgestoßen, und dort stand der Ritter in schwarzer Rüstung. Es bedarf nur einen einzigen Blick, um die Lage zu verstehen. Er starrte vom toten König zu Ciaran und zur Krone in seiner Hand, bevor er auf die Knie sank.

„Mein König – der Hof wird ein Fest für euch ausrichten.“


Über die Autorin

Christine Kulgart ist 1993 geboren und lebt und schreibt in Ulm (Baden-Württemberg). Sie hat Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Augsburg studiert und ist seit 2013 in der Ulmer Medienlandschaft in Tageszeitungen und Stadtmagazinen unterwegs. Hauptberuflich arbeitet sie als Redakteurin im Marketing und schreibt freiberuflich für die Fachmagazine Naturstein und Bestattungskultur, ebenso wie für das Studierendenmagazin Studi@SpaZz. Auf Instagram findet man Christine unter @tinekulgartschreibt und @somberlainy.

Bisherige Veröffentlichungen:

Rauschberg (2023)

Matryoshka

Disclaimer: This story falls under the category “horror” and is therefore fit for mature audiences and up. Some common, potentially triggering topics are included. For specific trigger warnings, please scroll down to the bottom of the text as they might serve as spoilers.


Matryoshka 
by Elise Marai

The sun had not risen yet and would remain hidden beneath a black horizon for a while, but the morning fog had already assimilated and was filling the air with a surreal, ghost-like presence. To Nick, it looked like pudding. Or clouds. Clouds that had descended to the ground, pulled down by all the rain they carried inside them and had not been able to release. Eventually, it had become too heavy for them to stay afloat, and they had sunken, fallen from the sky, right onto the wet, gray, and dirty alleys of an unloved neighborhood that was, at this time of night, barely visible underneath broken street lamps casting their own shadows onto a world they were supposed to illuminate. Nick did not mind the darkness. He had lived among the shattered windows, graffiti tags, and rubbish piles for almost 24 years, and the time he had spent elsewhere had long since been lost in the perhaps never-acquired or possibly forever-lost memory of an infant. Consequently, Nick could identify every corner just by the smell of either piss or alcohol, the feel of solid stone or pebbles beneath his worn-out, greyish-white sneakers, and the noises accompanying it all: faded rap music, yelling, fighting, fucking. Anyone who ever laid eyes upon Nikolai Volkov would agree that he did not appear like a man who could easily be scared. And they would be quite right in their assumption. Nick had seen it all, done it all, and bore the scars and prison tattoos he had collected over the years on his skin, providing a glimpse into almost two decades of bad influences and even worse decisions for everyone who crossed his way. Tonight, this way had led Nick from a horror movie double feature in the local cinema to a wild Halloween party in a club downtown, and now finally, although he did not quite remember how he had ended up here, back into his own four walls.


He turned the key in the apartment door and pushed it open. The echo of a screeching sound filled the deserted hallway, followed by the echo of the door closing behind Nick. He didn´t bother with the light switch in the hallway and stumbled right into the kitchen, washing his – dinner, midnight snack, breakfast? – down with half a liter of vodka, his own personal version of hot milk with honey before bed. It had long since stopped doing the trick, leaving Nick no choice but to exploit the secret stash in his living room. His rough, calloused fingers easily found the light switch. He turned it on and found a huge black spider right next to it. A second later, the spider was a dark red spot on the wall, and Nick absentmindedly wiped his hand on his sweatpants.
Although he had no memories of living in Russia prior to his first birthday, he had still put in the effort to learn the language to the point where he could even write and read Cyrillic—horrible grammar aside—and kept some of the items his mother had brought to America when fleeing the country 23 years ago. One of those was an old Matryoshka, an absolute cliché, and Nick was not even sure whether his mother had really brought it from Russia or been gifted it by one of her many American boyfriends lacking creative ideas for a last-minute birthday present, but he found the little wooden doll with its painted-on rosy cheeks, green and red floral dress, and horrible, ugly yellow head scarf incredibly useful. Despite it’s obvious purpose, it also served as a token of a childhood he was not sure had ever even been.


Nick regarded the ugly little doll for a long moment without thinking of anything particular. He was tired now, could already feel his eyelids becoming heavier as a comfortable, familiar numbness crept into his hands and feet, and it took him a couple moments to realize that the Matryoshka was not supposed to stare back at him. Yet it did. Nick blinked, squinted, moved to the left. The two small, beetle-black doll eyes followed him. He took two steps to the right. Again, the Matryoshka’s gaze followed.
Feeling an uncomfortable sensation somewhere in his belly—or was it his chest? Nick turned on his heels, stumbling towards the door. He needed to lay down for a while. Outside, the wind picked up speed and rain splattered against the living room windows, but the faded yet horribly close sound that reached Nick’s ears now was not a product of the worsening weather. It was a high-pitched, goose-flesh-inducing scream that could be deemed somewhat human with a little imagination, mixed with the sound a chainsaw would produce when cutting through splintering wood and something else that could only be described as the tearing of human flesh. Nick closed his eyes, stiffened, and held his breath. Nick Volkov was no coward. And he was not going to run. Even though he knew he should. Run as fast as possible. But Nick wouldn´t be where he was now, who he was today, had his fight, flight or freeze response ever settled on one of the latter option. So he turned around, the room a blur of rubbish and dark furniture around him, and bit back a scream that could have matched the one he had just heard, had it ever been realized. The Matryoshka was right behind him. Its black eyes were gleaming now, gleaming out of an old woman’s face that was half wood and half skin. Her hands were wrinkled, dotted, stretched out in his direction, and her teeth were sharp golden splinters. She still wore the mustard yellow head scarf and the floral dress, and something was moving underneath them. Her breath reeked of sanitizer and mold. Instead of lifting them in defense and throwing the first punch like he had planned, Nick pressed his own hands against his stomach, swallowing down vomit instead of a scream.
“Pain”, the half-wooden monstrosity—zombie Pinocchio, Nick thought—croaked in an inhuman, rough, and hollow voice. Her features changed as she spoke, and now Nick recognized her, despite the splintered teeth and the dead black eyes. He had known her almost his entire life. Mrs. Cartwright had moved into the flat across from the one his mother had rented for them when they had first come to America after her husband had died of heart failure all the way back in 1999. To Nick, Mrs. Cartwright had been something of a grandma replacement, baking apple tart every Sunday, always making sure he got the biggest piece, and reading him a bunch of American children’s books his Russian mother had not been able to understand. He remembered her warm and lovely brown bambi eyes and the smell of cinnamon and vanilla in her apartment. Nick had felt at home with her. That had not stopped him from stealing her entire supply of morphine and fentanyl, however, after she had been diagnosed with stage 4 lung cancer some years ago. Her death had been slow and painful, and Nick had been there to witness the light go out behind those warm brown bambi eyes until they had turned as black as they appeared now.
“Pain”, the Mrs. Cartwright thing croaked again, “so much pain.” Now he could see the tumors growing inside her like parasites, swelling and bursting through her clothes, creating horribly distorting bumps everywhere on her head and upper body. She took a clumsy step towards Nick, and her long wooden fingernails scratched his lower left arm. He let out a quiet squeal.
“You cause me pain. Now I cause you pain.” Nick felt her nails sink deep into his flesh. His breath caught in his throat as they dug down all the way to his bones until the wood splintered against them. Paralyzed with agony, all Nick could do was close his eyes. The moment they fell shut, the pain vanished. It was replaced by another soul-chilling sound Nick had only ever heard as a faint echo of what it really was: in horror movies, when the innocent citizens of whatever creepy small town were finally ripped to shreds by the monster. Just this afternoon, he had witnessed it all in the cinema, laughing and throwing a handful of popcorn into his mouth. Now, as Mrs. Cartwright was torn wide open, right through the middle like a real Matryoshka, by a force from her own inside and the hands of something—someone else—dug their way through her intestines towards the light, all that popcorn came back up. Nick fell forward to his knees, vomiting on the living room floor.

“Is that the son I raised? Kneeling in his own puke?”, a ghost-like voice asked, dripping with disgust. Nick looked up into a face he had known he would recognize the moment the voice had first echoed through the living room. He had tears in his eyes and snot dripping down from his nose as a consequence of the vomiting, and he wanted to reply, wanted to sound strong and brave, but he could not produce a single sound, facing the ghost of the woman who had abandoned him half his life ago, not wooden but also wearing the yellow head scarf and the floral dress of the Matryoshka, which was dripping with Mrs. Cartwright's blood and bile.
“Get up”, the ghost commanded. Nick felt her voice in his bones more than he heard it, and he was sure, icicles were forming all around them every time she spoke. He remained exactly where he was, shivering on the ground.
“Get up, I said”, the ghost repeated, and extended a hand despite her drill sergeant-like tone. It had always been that way with his mother. Carrot and stick, and he should have known better than to fall for the first, should have seen the latter coming even after all those years without her, but his need for comfort was stronger than the little rationality he had left, whispering to him that this was not a good idea. He reached for her hand and closed his fingers around thin air.

Flabbergasted and desperate, he grabbed for her wrist again, and this time his fingers made contact with something warm. The ghost was gone, replaced by a much younger woman who was part porcelain, part flesh. She was too tall to be considered conventionally attractive, but her big red hyaluronan filled lips and surgically enlarged breasts and butt would have made almost any straight man turn a blind eye on her height had it not been for the huge gaping hole between her legs. The woman was naked apart from the yellow head scarf, and her cheeks were just a little redder than those of the wooden Mrs. Cartwright and Nick’s mother’s ghost.
"Oh, you poor thing”, she said to Nick, her voice an odd mix of nails on a chalkboard and the sweet, almost childlike tone some people used when talking to their pets.
“Rough night, huh? Don’t worry, I can make you feel better.” She smiled, and Nick saw that she had no teeth. Her eyes were empty sockets too, her ears missing, and the hole between her legs began to grow, omitting the smell of stale, old fish that made him feel sick all over again. He remembered that smell, and he remembered the woman too. Not her name. Not any of their names. But he remembered them. He had been a child, almost 11 years old and naïve, eager to prove himself to the older guys that lived around the blog, and when they had taken him to a shady establishment in someone’s cellar, full of smoke, loud music, and naked women, he had not hesitated a second. He did not remember what exactly had happened then, but he did remember that smell, the stale, old fish, and the feeling of being crushed underneath someone—more than someone, actually. It had been multiple women; he was quite sure of that, but they had all smelled the same, suffocating him with their huge, heavy bodies and penetrant odor. The last thing he could recall before passing out had been the irrational fear of literally falling into them and being swallowed by the big black hole between their thighs.
The eye- and earless woman in front of him was growing straight through the ceiling now, coming closer until she stood directly over Nick and all he could see was that same black hole. He was suffocating again and tried to crawl away, fighting for air and against the urge to empty the contents of his stomach once more. His back hit the wall, and re-entering a childlike state of sheer panic, he drew his knees to his chest, slung his arms around them, and panted hysterically. Overhead, the ceiling was bursting. Dust and cheap tapestries rained down on him, and the black hole was pulling at his entire body, threatening to absorb him any second. Nick grabbed the leg of his couch table in a desperate attempt to hold onto something and turned away, facing the wall. Bang! The explosion was deafening, and for a moment all he could hear was a constant beeping that steadily grew louder in both his ears. He did not want to look, did not want to play this game any longer, but he had to know what was happening now, what danger was presenting itself to him this time, and because he could not hear, he had no choice but to turn around once more.


A teenage girl was climbing over the ruins of what once had been the ceiling, barefoot, dusting her floral dress, and smiling at him in a shy, innocent way that would have made her very beautiful, hadn’t it been for her metal braces. The smile did not reach her eyes, but that was alright, because it never had.
Kitty LaPointe had been Nick’s classmate for eight years until he had dropped out of middle school, and she had been everything he was not. Sweet and kind and gentle. Nick remembered the hearts she had used as i dots, the way she had always rescued lost insects from the classrooms, even if they were aggregated wasps with stingers just waiting to puncture her soft, warm skin, and he remembered the red cuts that had eventually started appearing on that same skin and the gun Kitty had put to her head the year she had been supposed to start high school.
For a moment, Nick expected her to split herself in half the way the Mrs. Cartwright’s appearance had done and produce all the other girls he had ever slept with from her midst, because surely, that was what this had to be all about after he had just encountered the woman who had taken his virginity, and he could practically see their faces appearing all around her—Hanna and Sasha and Emma and Ellie and Seven and dozens, maybe a hundred other nameless females, perhaps some of the guys he had been with too—but then he noticed the thick, black liquid slowly dripping down Kitty’s left temple. As the blood spilled over her left eye, she kept it wide open, unbothered, not blinking, and the brains began to follow it out of the wound. Kitty’s skin turned gray and bloodless, and her head began to deflate like a balloon.
“No, no, no, no”, Nick whispered. “No, I grabbed the gun; I stopped you. I saved you. You aren´t dead. You didn’t die. I saved you.”
“You did not”, Kitty said softly, “you ruined me. But I can save you.” She stepped closer, touched the hole in her temple, and smeared some of the blood and brains on his cheek. The unexpected warmth made Nick shrink away from her, despite her touch being as gentle as it had always been.
“You just have to do what you did not allow me to do.” He knew what she was going to say before she did it. Somehow she had gotten hold of the gun he kept on his bedside table. Blood and brains were coming out of the muzzle as well, and Nick began to feel a horrible pinching sensation in his own head. It was his blood that dripped out of the gun. His brains, the bullet had penetrated.
“Pull the trigger”, Kitty said, no more trace of warmth or kindness left in her voice, and Nick screamed.

The pain turned into agony as Kitty’s head disintegrated in front of his eyes and her body followed until all that was left on the ground, where she had stood a moment ago, was a newborn. A newborn in the midst of all that destruction looking as vulnerable and innocent as any baby. The headache left as suddenly as it had come over Nick, and despite himself, he stepped towards the baby, bending down to pick it up and save it from this nightmare, but as soon as he touched the baby, it began to cry in a way that could only be described as demon-like. Nick withdrew his hands as if he had burned himself, and the baby immediately stopped crying. It lay completely still as tiny red spots, needle marks, began to appear, first on its arms, then spreading to the feet, legs, dotting its entire body, and finally making their way up to the throat. Tattoos presented themselves on the baby's skin now—Nick's tattoos, followed by his scars. The tiny veins inside the baby's eyes popped, giving them a bloodshot look that was underlined by a dark circle on each side. The baby cried again, and Nick pressed his hands over his ears and screamed, too. Suddenly, the baby began to shake. It had stopped crying as suddenly as it had begun, but its mouth still stood open and spit drizzled down the tiny, chubby cheeks and chin. A flood of vomit smelling of pure ethanol followed, and it was so acidic that it melted the babies punctured, wounded skin right down to the bones wherever it made contact. The tiny body began to shake, cramp, and contort in ways Nick would have never thought possible, and all he could do was watch with his mouth open. He didn`t notice the spit that ran down his own chin. The baby had his full attention, and even when it finally lay still, dead eyes rolled into the back of its head, it wasn`t over because now worms and larvae began crawling out of its eyes, mouth, and nose, eating away whatever was left of the soft flesh. Others found their way to the floor, where the disintegrated skin of the baby, which was no more than a mere skeleton now, seeped through the carpet and burned a six-foot-deep hole right through the ground. It filled with more crawlies—spiders, bugs, and maggots—and burst wider and wider open until it was big enough to fit a coffin. The grave stretched almost all the way to Nick, who sat hunched over, pressed against the wall next to the living room door, and beneath him, the floor began to buckle too now. He tried to catch a hold of something, anything, but it was too late. Nick couldn`t save himself. He fell.


When the midday rays of a cold November sun found their way into his living room, which resembled a battlefield more than a place anyone could call home, Nick awoke with dried vomit on his sweater and wet underpants. There was broken glass on the floor; somehow his gun had found its way into the living room, and—had he fired it against the wall? His couch table was missing a leg, and a bunch of stuff had fallen from the shelf above the TV; most of it—everything but that ugly little wooden doll, really—shattered on the ground or directly on the screen, which had clearly seen better days. Maybe it was time to invest in a new one, Nick thought when, after a slow and clumsy start into the day, he got around to tidying everything up, vacuuming, and scrubbing the floor twice before finally stumbling into a hot, relaxing shower. He never noticed the tiny, red drops right underneath the Matryoshka` small beetle black eyes, rolling down her cheeks like bloody tears.

 

Trigger warnings: drug/alcohol abuse, addiction, violence, rape, childhood trauma, self-harm, suicide/death

About the Author
Elise Marai was born in 2000 in northern Germany and currently commutes back and forth between Hambrug and Lübeck. After graduating from school, she spent some time in the US and Canada, which really sparked her interest in the English language after about a decade of writing in German. She currently studies infection biology in an international masters program and takes minimum-wage, part-time lab jobs whenever a good opportunity presents itself. In her free time, she reads and writes a lot, and has published her debut, "The (W)hole Picture" in August 2023.

Der Preis der Unsterblichkeit

Ich sah das gläserne Gefäß vor mir an. Die lila Flüssigkeit brach sich im Licht, offenbarte mir dabei sämtliche Nuancen, die diese Farbe zu bieten hatte.
Ich hatte es geschafft und das ohne die Hilfe aus dem Jenseits.
Endlich hatte ich ein Mittel, um den Drang zu verwirklichen, der geraume Zeit schon in mir wohnte. Seit ich damals dieses Buch geöffnet hatte.
Lächelnd beäugte ich die Phiole.
Ich musste den Inhalt nur trinken und würde dann an meinen Traum näher kommen.
Lange hatte ich daran gearbeitet, um dies zu erreichen.
Die Verwirklichung meiner inneren Sehnsucht.
Endlich war es so weit.
Ich öffnete die Phiole und setzte den gläsernen Rand an die Lippen.
Es würde mich zwar für kurze Zeit mein Bewusstsein kosten, aber dafür wäre ich dann unsterblich.
Ich legte den Kopf in den Nacken und kippte die Flüssigkeit hinunter.
Kühl lief die Substanz in meine Speiseröhre hinab.
Brennend, wie ein Eisfeuer, breitete sich die Flüssigkeit in meiner Brust weiter aus.
Ich hustete. Krümmte mich.
Es schmerzte.
Kurz zweifelte ich, ob es doch das war, was ich wollte.
Aber mein innerer Drang, die Unsterblichkeit zu genießen, war größer.
Ich schob meine Panik, meinen Schmerz, beiseite.

Ich erwachte, es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Um mich herum war alles dunkel und der Geruch von frischer Erde drang zu mir durch.
Meine Augen weiteten sich, als mich die Realisierung traf.
Ich befand mich in einem Sarg. Tief unter der Erde.

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Über die Autorin:

Noá Lunara ist eine quirlige Persönlichkeit aus Bayern. Sie hat bereits früh mit dem Geschichten erfinden angefangen. In Kindheitstagen wurden diese noch als Comic gezeichnet und seit der ersten Klasse in Textform festgehalten. Ihr Debütbuch ist "Lebender Beweis", eine christlich-mythologische Geschichte.  Ansonsten interessiert sich die Autorin sehr leidenschaftlich für Spiritualität und Geschichte.

 Bisherige Veröffentlichungen: (Storyban/Story.One Plattform)

x Mit ihm alle Farben

x Tanz mit dem Schatten

 

The Canal Path Murders

von M. Dunschen


She could hear the sounds of heavy footsteps as she hurried down the lonely canal path after dark. A mańs hand grabbed roughly at her sleeve and she spun round, her legs weak with fear. He, was holding a gun and stared stupidly at her. “You dropped this“, he said. He smiled at her creepily. She felt anxious as she could not move. The man came uncomfortably close to her insisting, that the gun was hers. She was so confused as she looked in his very dead appearing face. His look was quite unsettling. He had very pale looking skin and his eyes were filled with small red blood vessels. His face looked kind of bloated. As she looked the man down, she noticed that his clothes were very distressed and had a wet look to them. She was pulled out of her thoughts when he came closer to her face, tightening his grip on her wrist. Oh, this man was not asking if the gun was hers, she knew that now. As he was now so close to her and talked directly in her face, he revealed a very disgusting looking line of rotten teeth behind his unsettling smirk. The smell that came from the cold, dead air, he was breathing her way, was almost unbearable and it had almost a sweet touch to it. He looked directly in her big dark eyes for a second and saw the fear that tore her soul apart right that second. Suddenly he bursted into laughter and loosened the grip on her wrists. She fell back into the darkness, confused about what was about to happen. The man changed his expression into something dark, that she had never seen before. “Darling you really don’t remember me, do you?“ A cold, stab like feeling gushed through her body, making her heart feel like it was about to stop. The man continued: “Once every year…on All Hallows‘ eve…you can’t run from what you have done darling. I tried to find you for 10 years now. I believe it has been ten years now. If I am correct, then it must be 1912 right now, right? I would have never thought that you would get away with what you did for so long. This year however it is my turn t show you, how much i love you darling.“ She realized that the gun was in fact hers. It was the gun she had shot her husband with ten years ago. She really tried pushing the memories, of her dragging his dead body into the river, away. It now all came back to her. Maybe this was all a bad dream that she was about to wake up from. She realized that it was over, when the man came up to her again and looked at her intensely. The last thing she can remember of her life as a human was the feeling of an intense pull on her body and darkness that encapsulated every inch of her being. She knew that one day she had to pay for what she had done, but she never expected it to be in the way of being with what she had turned her husband into for eternity. As she vanished into whatever comes after death, the morning began to rise and the fog took everything that happened that night with it. People began going to work as usual and the city began to breathe. Everything seemed normal. What she did was forgotten. Who he was was forgotten. Just remember to never walk into the shadows that appear on All Hallows‘ Eve…


About the author:

M. Dunschen kommt aus dem beschaulichen Städchen Paderborn und hatte schon immer eine Vorliebe für Fantasy und für das Skurrile. In ihrer Freizeit widmet sie sich nicht nur der Literatur, sondern liebt es auch auch zu malen. Auf Instagram findet man sie unter @my_cozy_book_page und @maddi_arts.

Sonntag, 15. Oktober 2023

Weihnachtsanthologie sucht Texte und Kunst

 

Bildquelle: Autor:innenkollektiv Schreibfeder

Hallo ihr Lieben,

Das Autor:innenkollektiv Schreibfeder sucht weihnachtliche Texte und bildnerische Kunst für unsere Weihnachtsanthologie „Wenn Tannen duften – Adventskalender der Weihnachtsmomente“.

Es werden also jeweils Texte und Kunst für 24 Tage gesucht. Diese Anthologie soll gedruckt und als eBook erscheinen. Alle Einnahmen werden an die Caritas gespendet – ein Honorar können wir daher nicht bieten, dafür das tolle Gefühl, Menschen im In- und Ausland mit euren Werken geholfen zu haben.

Die Texte sollten bitte einen Umfang von fünf bis zehn Seiten haben und auf Deutsch geschrieben sein. Die Textsorte ist egal, auch weihnachtliche Gedichte sind erlaubt.

Es ist möglich, sowohl ein Bild als auch einen Text für das Buch einzureichen. Die Garantie, dass beides angenommen wird, gibt es aber nicht.

Es wäre uns wichtig, dass dieses Buch auch für Familien geeignet ist, daher folgende Regelung: Schwierige Themen dürfen genannt werden, wir bitten aber von Vulgärausdrücken, explizit sexuellen Szenen oder übermäßiger Gewalt abzusehen. Das gilt sowohl für die Texte als auch für die Bilder.

Abgabe der Texte und Bilder bitte bis zum 31. Oktober an die Mailadresse tannenduft-adventskalender@web.de im pdf-, png- (Kunst) oder docx-Format (Texte)! Bitte sendet auch ein Foto von euch und eine kurze Biographie von max. 200 Wörtern mit. Ob ihr dabei seid, erfahrt ihr zeitnah nach Abgabeschluss.

Wir freuen uns sehr auf eure Geschichten.

Tag der Liebe in allen Formen

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