Dienstag, 31. Oktober 2023

Die Schattenspielerin

von Laura Pellizzari

Triggerwarnung: Tod, Tod eines Kindes


Ich beobachtete, wie das kleine blonde Mädchen in der viel zu warmen Oktobersonne spielte, während ihr Eis über die kleinen Finger tropfte. Vanille, Mango, Maracuja oder auch Zitrone mit ordentlich vielen Chemikalien. Vielleicht war es auch so ein besonderes Herbsteis, wie es die Menschen in den letzten Jahren zu lieben begonnen hatten, etwas, was sie Kürbisgeschmack nannten. Auf jeden Fall eine ordentliche Zuckerbombe. Könnte Diabetes auslösen, Arterienverkalkung, Krebs, Alzheimer, die üblichen Problemchen, die das Alter in der modernen Welt mit sich bringt – wenn sie denn so alt werden würde.

Für das Mädchen war das Eis kein so großes Privileg, wie es für sie sein sollte. Was würde ich dafür geben, noch einmal so ein Eis essen zu können. Nur noch einmal. Oder zumindest die stille Freude empfinden zu können, die ich zu fühlen pflegte, wenn die gefrorene Sahne in meinem Mund zerfloss. Doch für das Mädchen war es nur ein Eis, vielleicht schon das zweite oder dritte diese Woche, nichts Besonderes. Ihr Schatten war interessanter, viel spannender. Hob sie ihre linke Hand spiegelte die schwarze Gestalt am Boden sie. Sprang sie, tat die Figur es ihr nach, nur um dann eine Sekunde später schon wieder an ihren Sohlen zu kleben. Für die Kleine schien das ziemlich faszinierend zu sein, immer und immer und immer wieder zu springen und zu landen und ihren Schatten dabei zu beobachten, wie er es ihr gleich tat. Dann lief das Mädchen, so schnell, bis sie nur noch keuchte, viel zu schnell für das noch heiße Wetter. Sie hatte keine Chance, den Schatten abzuhängen, nie. Minutenlang hetzte sie hinter ihm her, quer über den Platz, einmal so nahe an mir vorbei, dass sie mich hätte sehen müssen, wenn ich denn für sie sichtbar gewesen wäre. Doch das war ich noch nicht. Ein bisschen noch, ein paar Minuten. Dann würde sie mich sehen und schon jetzt hasste ich den Schrei, den sie ausstoßen würde, den alle ausstießen, wenn sie mich zum ersten Mal sahen.

Hätte ich noch mein Herz, würde es mir Spaß machen, das Mädchen zu beobachten. Ihre Freude wahrzunehmen. Früher, in einem anderen Leben, hätte sich jetzt eine Wärme in mir ausgebreitet. Doch alles, was ich in diesem fühlte, war Leere, so wie ich es immer tat. Was ich sah, löste nichts in mir aus. Nicht mehr. Wenn ich daran dachte, was ich gleich würde tun müssen, spürte ich nichts. Nur die immergleiche Leere. Gut, dass ich kein Herz mehr hatte. Denn so war es nur noch ein Auftrag für mich, eine Erledigung wie jede andere auch. Die erste von vier Stationen heute. Nicht aufreibender, als einen Liter Milch im Supermarkt zu kaufen. Nach ein paar Jahrzehnten hörte man auf, mit jeder Person mitzufühlen. Jeder Funke Mitleid war vergeudet, denn es würde nichts ändern. Was geschehen würde, musste geschehen. Und es musste durch mich geschehen.

Nur ein Fingerdeut, ein paar geflüsterte Worte. Keine großen Gesten, kein Lärm. Es reichte auch so: Der Schatten hatte sich von den Fersen des Mädchens gelöst, das wahre Wettrennen konnte beginnen. Das Mädchen quietschte und schrie vor Vergnügen, jagte der schwarzen Gestalt mit Feuereifer nach, die Tüte Eis fast geschmolzen und längst vergessen in ihren Händen. War ja nur gezuckerte Sahne, ihre Eltern würden ihr sicher eine neue kaufen, wenn sie sie darum bat. Das Spiel mit dem Schatten wiederum, das würde sie nie wieder erleben. Das war einmalig, das erkannte auch sie schon.

Runde um Runde rannten die beiden über den Platz, ihr Schatten nie mehr als nur einen Meter vom Mädchen entfernt. Nie so weit von ihr entfernt, dass die Menschen um sie herum erkennen könnten, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Noch eine Runde um den Platz und noch eine. Die Augen an ihren Schatten geheftet, nichts anderes war mehr wichtig, nichts anderes würde je wichtiger sein als dieser Schatten, der wundersamerweise tatsächlich ein Wettrennen mit ihr machte. Die Eistüte, die sie irgendwann fallen ließ, war unwichtig. Die Rufe ihrer Eltern hörte sie gar nicht. Der Schrei der Passanten brachte sie nicht mal dazu, aufzusehen. Schade, denn sonst hätte sie vielleicht das Auto entdeckt, dass da auf sie zuraste, während sie dem Schatten weiter hinterherlief, raus auf die Straße. Sie schien nicht mal zu realisieren, dass sich der Untergrund unter ihrem Boden verändert hatte. Keine Kopfsteinpflaster mehr, Asphalt.

Aber selbst wenn sie es realisiert hätte, hätte es nichts gebracht. Denn sie war unter meiner Macht, unter meinem Fluch, der sie dazu brachte, stur weiterzujagen und zu vergessen, dass die Welt um sie herum existierte.

Sie schrie nicht, als das Auto sie zu Boden stieß, dafür taten es ihre Eltern. So laut, dass sie es nicht hörten, wie ihre Knochen brachen, Oberschenkel, Handgelenk, Hüfte, Wirbelsäule, Schädel. Sie war sofort tot, aber das konnten ihre Eltern, die nun zu ihr rannten, nicht wissen. Für sie gab es noch Hoffnung, nur einen Hauch, an dem sie festhalten würden, zumindest, bis der Krankenwagen eingetroffen war, der von den anderen Menschen in der Umgebung gerufen wurde. Für mich gab es keine solche Hoffnung. Denn ich sah, dass das Mädchen am Straßenrand stand. Sie sah sich suchend um, hatte ihren Schatten aus den Augen verloren. Kein Wunder, denn nun hatte sie keinen mehr. Als ihre Augen über ihre Eltern glitten, die ihren leblosen Körper im Arm hielten, ihn hin und her wogen, als wäre sie wieder ein Neugeborenes, öffnete sich ihr Mund zu einem kleinen „Oh“. Sie verstand nicht, was da passiert war, natürlich nicht, war ja noch ein Kind. Sah nur ihre Eltern, ihren Schmerz und die kleine Gestalt, die irgendwie aussah wie ihr Spiegelbild, aber auch wieder nicht ganz, nicht, wenn ihre Gliedmaßen auf solch groteske Art von ihrem Körper abstanden. Sie rief etwas, doch ihre Eltern hörten sie nicht. Rief nochmal, bekam aber keine Reaktion. Natürlich nicht. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, dabei wanderte ihr Blick weiter, bis er an mir hängen blieb. Eine schwarze Gestalt, Gesicht verdeckt von einer schwarzen Kapuze, die ruhig dastand, als einzige Person auf dem ganzen Platz. Sie starrte und starrte und ihre Lippe begann zu zittern. Es überraschte mich nicht, denn ich musste das Schrecklichste sein, das sie in ihrem gesamten bisherigen Leben gesehen hatte. Gut, dass ich nur der Übergang war, nicht das Ende. Was später kommen würde, würde ihr besser gefallen, da war ich mir sicher. Also streckte ich die Hand nach ihr aus, knochig wie sie war. Sie schreckte nicht zurück, starrte nur gebannt weiter auf mich, beobachtete alles, was ich tat. Noch weinte sie nicht und ich hoffte, dass es so blieb. Es war so viel einfacher, wenn sie nicht weinten und einfach mitkamen. Also bemühte ich mich um meine freundlichste Stimme. Sie konnte ja nichts dafür, für meine Situation, für mein Aussehen, meinen Fluch. Das konnte nur ich.

„Kommst du?“



Über die Autorin:

Laura Pellizzari (geboren 1999) lebt in Tirol und in Salzburg. Sie studiert Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaften und betreibt die Seite „Miras Bücherwelt“. Im Sommer 2023 hat sie ihr Debüt „Die Schauspielerin“ veröffentlicht, davor hat sie bereits an mehreren Anthologien mitgewirkt.


Bisherige Veröffentlichungen:

Mehrere Kurzgeschichten in der Anthologie „Gedankenchaos“ (2023)

„Die Schauspielerin“ (2023)

„Mein Stück des Himmels“ in der Literaturzeitung „Veilchen“ (2021)

„Heimatdreieck“ in der Anthologie „All over Heimat“ (2019)

„Die Mauer“ in der Anthologie „Ziegelsteiner Auslese“ (2018)

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