Dienstag, 31. Oktober 2023

Stumm

Triggerwarnung: 

Diese Geschichte enthält Beschreibungen von Vergewaltigungen, Mord und Folter. 


„Egal was passiert, öffne nicht deine Augen.“ Es sind so einfache Worte, die eine einfache Handlung erfordern. Aber ich kann nicht. Ich muss sie einfach öffnen. Und sehe das Entsetzen. Das schlimmste, was ich je gesehen habe und wohl auch sehen werde. Weit geöffnete Augen, die mich anstarren. Es sind die für mich wohl vertrautesten Augen auf der Welt - die Augen meiner Mutter.

„Mami, stirb nicht, ich liebe und brauche dich.“ spreche ich in Gedanken mit meiner Mutter. Aber keine Reaktion. Ich sehe nur leere Augen, die voller Liebe, Hingabe und Leben gefühlt waren.

„Ich sagte doch, dass du nicht hinsehen solltest.“ spricht der Mann hinter mir. Ich habe keine Ahnung, wer er ist, aber ich habe das Gefühl, dass er weiß wer wir sind und genau weiß, was er tut. „Das hast du sehr gut gemacht Bonnie, du hast hingesehen, obwohl ich gesagt habe, guck weg. Du bist sehr mutig, aber auch dumm. Deine Dummheit muss bestraft werden und ich freue mich, dich bestrafen zu können.“ spricht er so gefühllos, dass es mir einen Schauer über den Rücken läuft.

Der Mann sieht groß für mich aus, aber ich weiß nicht wie sein Gesicht aussieht. Die Sturmmaske verdeckt sein Gesicht, was sie aber nicht verdecken kann sind seine tief dunklen, braunen, toten Augen.

Ich schließe die Augen in der Hoffnung, dass es nur ein Traum ist.


Es ist ein heißer Nachmittag in San Francisco. Unser Wohnkomplex steht auf einem Hügel, die Straße ist so laut, wie man es erwarten kann. Wir wohnen recht weit oben und wenn ich nach Hause durch die Tür komme, sehe ich direkt die Küche. Es ist für mich der schönste Ort in unserem Zuhause. Die Sonne scheint durch das Küchenfenster auf dem Esstisch. Meine Hefter und Bücher liegen kreuz und quer und ich gebe mir allergrößte Mühe, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Es ist allerdings gar nicht so einfach. Ich spüre einen Widerstand in mir, einfach in mein Zimmer zu gehen und einfach drauf los zu malen. Aber nein - ich versuche brav zu sein, für meine Mum. Sie und ich, wir sind ein Team. Sie ist der Inbegriff der Schönheit, in ihren blauen Augen sieht man die Wellen des Ozeans, die jeden mitreißen können. Es sind positive Wellen der Liebe, Toleranz und Stärke. Die alte Mrs. Miller, die gegenüber im Apartment lebt, pflegt immer zu sagen „Kindchen, du wirst genauso werden wie deine Mutter. Du siehst aus wie sie, mit deinen blonden lockigen Haaren, um die ich dich so beneide. Du wirst ihre Freundlichkeit und Offenheit gegenüber anderen übernehmen und wirst immer auf sie hören, verstehst du?“ Ach, die alte Dame hat schon etwas verrücktes an sich. Aber ich kenne sie, seit wir in diesem Komplex leben. Sie ist immer nett und hilfsbereit. Außerdem kennen wir kaum andere Nachbarn von uns.


Wir leben oben in der zehnten Etage und die Mieter leben alle eher für sich. Jeder macht sein Ding und es interessiert sich niemand für den anderen. Mum ist in ihrem Schlafzimmer und arbeitet am Computer. Sie ist einmal böse auf mich geworden, weil ich einfach so in das Zimmer reingeplatzt bin, ohne vorher anzuklopfen. Ich sah nur, dass der Computer an war und sie schnell den Bildschirm ausgemacht hat, als sie mich bemerkt hat. Das war für mich eine Lehre. Deswegen versuche ich mich weiter auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren, gebe aber schließlich auf. Die Matheaufgaben werde ich im Schulbus morgen früh fertig stellen und Mum wird es nie erfahren. Ich räume unseren Esstisch auf und bereite mich mental schon auf das Abendessen vor.

*Klopf, Klopf* Wir erwarten keinen Besuch, aber es kann möglich sein, dass Mrs. Miller an der Tür steht und uns zum abgestandenen Kaffee und Keksen einladen will, wobei die Kekse schon längst abgelaufen sind. Noch bevor ich die Tür öffnen kann, geht meine Mum fröhlich und heiter mir zuvor. Sie lächelt mich an und es ist das liebevolle Lächeln, was aussagt: "Ich liebe dich, mein Kind. Ich bin stolz auf dich und werde dich für immer beschützen.“ Mum hat die Angewohnheit, zuerst durch den Türspion zu gucken. Sehr klug und umsichtig; eine Löwin, die ihr Baby schützen will. Sie schaut durch und öffnet die Tür. An der Türschwelle stehen zwei Männer in grauer Uniform. Sie sehen für mich aus wie Handwerker.

„Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie noch so spät aufsuchen, Miss King, aber wir haben von unserem Chef den Auftrag bekommen, in jedem Apartment die Feueralarmanlage zu überprüfen. Sicherlich haben Sie unseren Zettel im Briefkasten vor einigen Tagen gesehen.“ spricht der größere Mann in einer sehr freundlichen und warmen Stimme.

„Ohja, sicher, es tut mir Leid, ich habe vergessen, dass Sie heute kommen wollten. Aber natürlich, kommen Sie..“ noch bevor meine Mum ihren Satz beenden kann, holt der kleinere Mann eine Pistole aus seiner rechten Hosentasche, stürmt an ihr vorbei und kommt innerhalb von Millisekunden auf mich zu. Sein linker Arm umfasst meinen Hals, mit der rechten Hand setzt er die Waffe an meine Schläfe. Ich bekomme kein Ton heraus, ich bin starr vor Schreck. Noch bevor meine Mutter realisieren kann, was passiert ist, schubst der größere Mann sie in die Wohnung und schließt die Tür.

„Annie, ich empfehle dir, still zu bleiben. Du siehst, mein Partner hält deiner süßen Tochter eine Waffe an den Kopf. Versuchst du zu rebellieren, stirbt Bonnie.“ Alles in mir wird taub und ich sehe, dass meine Mum sich fügt. Sie verhält sich defensiv und gibt den Räubern das, was sie wollen. Aber in ihren Augen sehe ich den Ozean. Nicht der tiefblaue, der Heiterkeit. Es ist der dunkle Ozean, auf dem ein Gewittersturm sein Unwesen treibt und nur darauf wartet, etwas zu töten. Meine Mutter ist im Beschützermodus. Mein Gott, sie ist so unglaublich.

Ich erwache aus meinem Traum auf und spüre, wie sich meine Blase füllt. Ich spüre, wie ich im Schlafzimmer meiner Mum auf dem lilafarbenen Teppich liege. Allerdings weiß ich auch, dass dieser nicht mehr lila ist, sondern die Farbe von Blut angenommen hat. Mein Gott, wenn ich die Augen öffne, würde ich sehen wie... Nein, ich will sie einfach nicht öffnen. Es ist so still, ich höre meine eigenen Atemzüge. Es holt mich in die Realität zurück und ich spüre, wie die Welt sich weiter dreht, meine eigene aber komplett stehen geblieben ist.


 Niemand scheint hier zu sein, nur Mum und ich. Keine Ahnung, wie lange ich geträumt habe, aber ich spüre keine weitere Person hier. Die Männer sind weg. Ich erinnere mich an die Worte des Mannes und ich habe Angst vor seiner Bestrafung. Dennoch beschließe ich meine Augen wieder zu öffnen und - Oh mein Gott. Es war ein Fehler. Er hat mich bestraft. Ja und wie er mich bestraft hat. Ich sehe immer noch meine Mum - zumindest das, was von ihr übrig geblieben ist. Ihre Haut sieht so krank aus und ihre Augen. Da ist kein blauer Ozean, da ist kein dunkler Ozean. Das ist - ich weiß nicht. Was mal Augen waren, haben sich in milchige Flüssigkeiten verwandelt, die einer hellen Schlammpfütze ähneln. Ich kann meine Augen nicht abwenden, ich kann mich nicht drehen oder bewegen. So sehr ich es auch will, es geht nicht. Der Mann hat mich bestraft - indem er mich an meine tote Mutter gefesselt hat. Die Kette ist um meinen Hals geschlungen und reicht hinüber zum Hals meiner Mutter. Gesicht an Gesicht, vielleicht 5cm Abstand zwischen uns. Wieso? Wieso meine Mum? Wieso ich? Wir sind gute Menschen und haben nie irgendjemandem etwas Böses angetan. Ich krame in meinen Erinnerungen und versuche zu verstehen, was passiert ist:

Mum ist eine Löwin, wachsam und instinktiv beschützt sie mich. Sie hört auf das, was die Männer zu ihr sagen. Wir alle sind ins Schlafzimmer gegangen, die blauen Vorhänge sind zugezogen, sodass kein natürliches Licht in den Raum fällt. „Annie, du fesselst Bonnie an den Stuhl und drehst in Richtung Bett. Sie wird sich alles ansehen.“ Der Mann klingt fast glücklich, glücklich, mir Qualen zuzuführen und mich zu zerstören. Mum hört auf ihn, sie fesselt mich an den Stuhl und richtet den zum Bett. Nun sitze ich da, starre auf ihr großes Bett und weiß nicht, was ich tun soll. In meinem Inneren spielen sich all die positiven Erinnerungen ab. Wir haben in diesem Bett gekuschelt, als sie mich getröstet hat nach einem Alptraum. Wir haben hier eine Kissenschlacht veranstaltet und hatten den Spaß unseres Lebens. Ich habe ihr Frühstück ans Bett gebracht zum Muttertag. Es sind so viele wundervolle Erinnerungen und ich weiß, dass was jetzt passieren wird, wird all das zerstören.

„Zieh dich jetzt aus und setz dich aufs Bett.“ Der kleinere Mann spricht zum ersten Mal. Seine Stimme klingt unsicher, unterwürfig. Ich weiß nicht, er macht mir nicht so große Angst wie der andere Mann. Mum sitzt auf ihrem Bett, nackt und beschämt. Die rosafarbene Bettwäsche strahlt eine Geborgenheit aus, die für diese Situation einfach nur unpassend erscheint. Der große Mann geht zu ihr hin und fesselt sie ans Bett. Sie liegt wie ein Seestern da, starrt an die Decke und wünscht sich, vermutlich woanders zu sein.

Ich zucke zusammen. Es ist so laut, die Musik. Was ist das? Für einen Augenblick habe ich das Gefühl, meine eigenen Gedanken nicht hören zu können. Mum und ich sind alleine im Raum, aber nur kurz. Sie bringen einige Taschen in den Raum hinein und bauen alles auf. Das Equipment, die Kamera, die Kleidung und die Musik scheinen genau aufeinander abgestimmt zu sein. Die Kamera ist genau auf das Bett gerichtet, die Männer haben ihre graue Uniform abgelegt und sind komplett in schwarz gekleidet, die Gesichter so verhüllt, dass ich sie nicht erkennen kann. Das Equipment liegt ausgebreitet auf der Sitzbank vor dem Bett. Messer, Hammer, Säge, Elektroschocker, Fesseln und andere Dinge, für die ich eindeutig zu jung bin. Die Musik - „Gimme Shelter“ von den Rolling Stones. So laut, dass man nichts anderes hören kann. Die Vorbereitungen scheinen abgeschlossen zu sein - die Vorführung kann beginnen. Der kleine Mann tanzt zur Musik, Richtung Kamera und dann meiner Mum zugewandt. Es ist für ihn eine Show, eine Show, die er für sich, meine Mum und die Kamera veranstaltet. Er tanzt um das Bett herum, wie ein Irrer mit perfekten Tanzschritten, während der größere hinter der Kamera steht. Der Mann nimmt einen Hammer, tanzt mit ihm fröhlich und im nächsten Augenblick schlägt er damit meine Mum. Sie schreit. Sie schreit so laut, es geht. Aber niemand kann sie hören, zumindest außerhalb der vier Wände nicht. Sie kämpft mit den Schmerzen, aber im nächsten Augenblick vergewaltigt er sie. Als er fertig ist, nimmt er ein Messer und schneidet lange Linien in ihren Körper. Es sieht qualvoll aus und ich wünsche mir, dass sie schon tot ist, damit sie nichts spürt. Aber sie lebt - und das weiß er auch. Er vergewaltigt sie erneut und führt wieder Messerstiche und Linien durch. Immer und immer wieder. Vergewaltigung - Schmerz; immer abwechselnd. Es scheint ewig zu dauern. Von meiner Mum ist nicht mehr viel übrig, aber sie lebt noch. Nein, das darf einfach nicht sein. Sie dreht den Kopf zu mir und sieht mir tief in die Augen. Für eine Sekunde spüre ich ihren Wunsch. Ich spüre, wie sie sich wünscht, dass ich ihre Stelle einnehmen würde. Und sofort spüre ich ihre Scham; ihre Scham, dass sie sich wünscht, dass ihrem Baby so etwas passiert. Sie dreht sich weg und scheint sich ihrem Schicksal ergeben zu wollen.

„Mum, ich liebe dich. Und ich würde es für dich tun!“ Sie dreht sich wieder zu mir, spüre kurz ein liebevolles Funkeln in ihren Augen und sehe Tränen. Sie weiß es, ich weiß es und die beiden Männer wissen es. Meine Mum wird sterben. Sie wird sterben, ohne Würde, ohne Worte und komplett entblößt.

Dann ein dumpfer Schlag. Die Musik ist aus. Die Akustik, die meine Gedanken verdrängt hat, schenkt mir komplette Stille. Obwohl ich nicht weiß, ob ich dieses Geschenk haben will.

Ich sehe Mum und ich weiß sie ist tot. Tränen laufen mir übers Gesicht und ich fange an zu schreien. Ein starker Schmerz durchströmt mich und - komplette Dunkelheit.

„Das ist deine Bestrafung Bonnie. Du hast nicht auf mich gehört, hast die Augen geöffnet und gesehen - gesehen, wer wir sind. Wir können nicht zulassen, dass du auspackst. Wie du spürst, haben wir dich an Annie gefesselt. Du kannst dich nicht bewegen und du kannst sie nicht bewegen. Du bist gezwungen entweder deine Augen zu schließen oder deiner Mum in die Augen zu sehen. Zu sehen, was sie mal für ein Mensch war und nun nicht mehr ist. Du wirst nicht sterben, du wirst gefunden und wirst den Schmerz für immer bei dir tragen. Das nächste Mal hörst du auf das, was man dir sagt. Auf Wiedersehen.“

Ich wache aus einer Erinnerung auf und plötzlich komplette Stille. Nichts. Die Männer sind weg, die Musik ist aus und die Nachbarn sind still. Es ist bedrückend, seinen eigenen Körper zu hören und nichts machen zu können. Ich liege nur da, schaue meine Mum an und streichle ihr übers Haar. Ich werde sie beschützen und werde sie nicht alleine lassen. Ich streichle ihr so lange über ihr Haar, bis ich einschlafe.

Die milchigen Flüssigkeiten, die mal die Augen meiner Mum waren, werden dunkel. Ich will nicht mehr leben. Ich will zu ihr und bei ihr sein können. Die Sterblichkeit wird mir bewusst. Ich rieche es, ich rieche, wie ihr Körper sich langsam auflöst. Vielleicht riechen es auch die Nachbarn und sie werden mich finden? Eigentlich will ich gar nicht gefunden werden. Ich will nirgendwo hin, nur zu Mum in den Himmel.



Über die Autorin:

Anna T. (geboren 1997) lebt in NRW, Nähe Düsseldorf. Sie befindet sich aktuell in Umschulung zur Kauffrau für Büromanagment.

Die aus Sachsen stammende Autorin zog vor 1,5 Jahren in den Westen, wo sie ihr Leben komplett neu gestaltet. 

Instagram: hellou_anna


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